Authentizität und Schriftstellerkörper

von Samuel Hamen
Mai 3, 2016 / 0 Kommentare

Der Fake ist überall. Hier, hier und hier. Hier sowieso. Oder, besonders tolldreist, hier. Es sind gefährliche Zeiten, und als Leser/Hörer/Zuschauer gilt es, aufmerksam zu sein, um nicht als tumber Naivling dazustehen. Nicht umsonst wird das Münchner Filmfestival DOK.fest immer beliebter – Dokus sind ja so schön und unwiederbringlich echt. Scheinbar haben wir einfach keine Lust mehr, belogen zu werden. (Wobei doch gerade das Lügnerische und Trügerische oftmals literarisches Schreiben speist.)

Dieses Credo wird, als erweiterter Vorbehalt gegenüber der sog. Lügenpresse, zuletzt öfters und fordernder, auch als Lektüregusto auf die Gegenwartsliteratur übertragen. Die neue Behutsamkeit mit ihrem Faible für das Authentische kulminierte vor etwa einem Jahr im großangelegten Hype, als die Prosareihe „Min kamp“ des Norwegers Karl Ove Knausgård durch die deutschen Feuilletons gereicht wurde, gierig, wie Bowle auf einer miefig-miesen Firmenfeier. „Unerschrocken und souverän“ (FAZ) sei der erste Band der Reihe, „Sterben“, „[d]ie Wucht seiner Bücher“ hat Ijoma Mangold in der ZEIT förmlich erschlagen, und literaturkritik.de ergötzt sich an dieser „radikal-autobiografische[n] Stimme der eigenen Persönlichkeit.“ Die WELT mahnt gar, getreu Rilkes Mantra „Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles!“: „[M]an konnte sich kaum vorstellen, wie er es überstanden hatte, das alles aufzuschreiben“. Nun, er hat es überstanden und sich und sein Schreiben dadurch zu einem Label gemacht.

„Geprägt von der skandinavischen Herkunft, ist die […] Philosophie von einer liberalen und aufgeschlossenen Haltung bestimmt: ‚The Freedom to be Yourself‘.“ MOP_Schalaktion._V354791102_Davor war noch nie die Rede von „natürlichen Materialien“ und „individuelle[n] Persönlich-keiten“. Nein, wir sind nicht auf der Agentur-Homepage von Knausgård oder dessen Verlag, sondern auf derjenigen von „Marc O’Polo“. Die unternehmens-philosophische Nähe zwischen Knausgård und der Kleidermarke ist tatsächlich beeindruckend. Knausgård verbürgt sein Schreiben insbesondere durch seinen Körper; dadurch macht er sich zum Model seiner selbst, er gerinnt zur eigenen Werbemaßnahme.

Jetzt, ein Jahr später, hat die BRD bezüglich dieser Ego-Label-Literatur nachgezogen und ihren früheren Pop-Buben und heutigen Ex-Junkie-Helden ins Feld geschickt. Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“ wird gelobt als „ehrlich, anrührend“ (BILD), als „klug, schnell, poetisch, komisch und […] wahr“ (Ferdinand von Schirach), als „wahnsinnig und intensiv“ (Frankfurter Neue Presse); es sei „die schönste autobiographische Literatur“ (bz-berlin.de) und beinhalte „eine Wucht an Ehrlichkeit“ (derstandard.at). Eins hat Stuckrad-Barre Knausgård sogar voraus: 1999 hat er bereits für ein Bekleidungshaus gemodelt und derart die Arbeitsbereiche des Autors erweitert.

Was beiden und ihren rezenten Werken gemein ist? Sie stehen ein für ihre unverhohlene Biographie, für das behauptete 1:1-Transponieren ihres Lebens in Literatur. Diese poetische Gleichung hinzubekommen, das ist die selbstauferlegte Großaufgabe dieser beiden Wahrheits(dar)steller. Hierfür werfen sie alles in die Waagschale: ihr Familienglück, ihr Renommee und ihr Schreibtalent. Und am wichtigsten: ihren schriftstellerischen Körper. Er wird zur Fläche, auf der einzig und alleine noch sowas wie Authentizität möglich und nachweisbar ist.

Nicht umsonst beginnt ein taz-Artikel über eine „Panikherz“-Lesung Stuckrad-Barres mit: „Du erkennst ihn an der Körpersprache.“ Um mit dem Satz zu enden: „Dann schon, nach wenigen Sekunden, zittert er wieder.“ Erst dieses Zittern authentifiziert Stuckrad-Barres Sprechen über seine bombastisch desaströse und destruktive Junkie-Zeit; erst der live einsehbare körperliche Verfallszustand garantiert die eingeforderte Echtheit des fiktional behaupteten Verfalls. Und bei Knausgård?

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Google-Foto-Wall von Karl Ove Knausgard

Skandinavische Herbheit plus Säufertum plus eine höchstwahrscheinlich schreckdurchsetzte Kindheit, dazu eine fast schon machohaft starke Präsenz – und das alles auch noch in HD. In ihrem Gehalt sind die Fotos von Knausgård imagologische Pendants zu dessen Schreiben. Auch dort wird mit gnadenlosem Stolz jede Pore, jede Geste, jeder Gemütszustand unserem geistigen Auge dargeboten, auch dort gibt es keine Zeile und kein Kapitel, in denen der Autor nicht spürbar präsent wäre.

An dieser Stelle aber stürzt diese werbewirksame Volte in sich zusammen. Von ihm, der ob seiner unprätentiösen Wahrheitsschau gefeiert wurde, von ihm, der für seinen ehrlichkeitsdurchdrungenen Verzicht auf Erfindung gelobt wurde, von ihm gibt es bei der Google-Foto-Wall fast keine Fotos, die nicht gestaged bzw. aufs Übelste hergerichtet sind, um einen Effekt zu erzielen – nämlich denjenigen der Zoom-Authentizität und schonungslosen Nähe. Analog hierzu ist die „Min kamp“-Reihe ein immens effizienter Stilkniff, um denselben Effekt des Authentischen im Schriftlichen herzustellen, ohne sich als handelsübliche Effekthascherei preiszugeben. Genau das ist das einzige, soghaft wirksame Axiom seiner Literatur.

Jetzt schnell ein Gegenbeispiel für jene, die sagen, dass die Google-Foto-Wall doch bei jedem Autor so aussähe. (Außerdem macht es sich grafisch ganz hübsch.)

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Google-Foto-Wall von Clemens Meyer

Als zweites Beispiel für die gefährlichen Liebschaften zwischen Körper und Text des Schriftstellers: Michel Houellebecq. Googelt man ihn, schlägt der Autocomplete-Algorithmus als zweite Vervollständigung, noch vor „quotes“ oder „Elementarteilchen“, vor: „Houellebecq Aussehen“. Das erinnert ein wenig an Justin Bieber, bei dem einem „Sixpack“ oder „shirtless“ angeboten werden. Auf Platz sieben rangiert sogar allen Ernstes der Vorschlag: „Houellebecq dents“.

houellebecq google autocomplete

An Houellebecqs körperlichen Abbau lässt sich nämlich antizipativ mitverfolgen, wie der Westen demnächst in die finale Phase seiner Dekadenz rutschen wird – und wie gruselig das aussehen wird. Nachfolgend ein schaurig-schönes 10-Stationen-Leben, das metonymisch die existenzielle Aushöhlung des Westlers zu Beginn des 21. Jahrhunderts skizziert. In etwa so, wie sie Houellebecq auch in seinen Fiktionen beschreibt. Und wo, wenn nicht am eigenen Körper lassen sich seine Thesen verdeutlichen und verstärken? (Unten rechts fängt’s an.)

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Google-Foto-Wall von Michel Houellebecq

Die Liste an Beispielen ist stark erweiterbar. Ein Klassiker schon: Rainald Goetz und sein Ritzen. Aber auch Alban Nikolai Herbst, der auf seinem Blog darüber berichtet, wie er nach der mangelnden Aufmerksamkeit für seinen Roman „Traumschiff“ Anti-Depressiva schluckte und was das mit seinem Dichten machte. Oder der Lyriker Thomas Kling, der 2005 an Lungenkrebs starb und sich mit seinen Stimmverlust dem Ende lyrischen Sprechens überhaupt annäherte. Allen Fällen ist gemein, dass Text und Körper gestisch zusammenfinden und eine unerhörte Symbiose eingehen. Dadurch wird eine Kommunikation der Glaubhaftigkeit, Direktheit und Unhintergehbarkeit generiert, nach der wir uns heute bedingungslos sehnen. Nach dem Motto: Je fester ich ritze, desto tiefgründiger sind meine Verse.

Aus einer anderen Richtung kann man sich demselben Phänomen übrigens auch nähern. In ihren Artikeln mokieren sich Michael Wolf in der WELT („Warum sind die Schlauen heute eigentlich so fit?“) und Michael Kothes im FREITAG („Biokapitalismus und Askese“) über die Wellness-Schnittigkeit und Loréal-Schönheit der jüngeren und jüngsten Schriftsteller. Dagegen loben sie Säufer wie Ernest Hemingway oder Joseph Roth und Drogenjunkies wie Klaus Mann oder Georg Trakl. Zitat: „Entscheidend aber bleibt, dass der Rausch die Fantasie aufwirbelt. […] Angesichts dieses Erbes erscheinen die Nachgeborenen samt ihrer Hervorbringungen meist doch ziemlich dröge.“

Hinter solch fragwürdiger Glorifizierung steckt auch eine ganz bestimmte Befürchtung: Wie kann ich diesen Hochglanzmenschen mit ihren glatten Häuten und faltenlosen Oberteilen noch irgendwas abkaufen? So ein unbescholtener Körper und der in ihm hausende Autor können doch keinesfalls Wahrhaftes über die Kaputtheit unserer Zeit hervorbringen. Michael Wolf weist dann auch hilfesuchend auf oben gezeigten Clemens Meyer hin – nicht zu Unrecht. Auf sechs der Fotos feiert und/oder trinkt Meyer. Tätowiert ist er ebenso! Und im Gefängnis war er ja auch schon.

Wie aber dieser irgendwie unheimlichen Liaison von Körper und Literatur begegnen? Wahrscheinlich macht Clemens J. Setz alles richtig: ein wenig mitspielen, ein wenig gegenkritzeln.