Lukas Bärfuss: Hagard
Wahrscheinlich, vermutlich, womöglich – im neuen Roman von Lukas Bärfuss wird ausgiebig gemutmaßt, sowohl vonseiten des Erzählers, der versucht, seine eigene Hauptfigur zu verstehen, als auch vonseiten eben jener Hauptfigur, die zwei Tage darauf verwendet, sich an die Spur einer unbekannten Frau zu heften.
Es ist Mitte März in einer schnieken Schweizer Stadt: Alles ist sauber, geregelt, üblich. Gebe es ein besseres Szenario, um ein Leben aus dem Ruder laufen zu lassen? Der Immobilienagent Philip soll sich wegen eines Grundstückverkaufs mit einem Klienten treffen, der den famos lächerlichen Nachnamen Hahnloser trägt. Der Klient ist unpünktlich, Philip tritt genervt aus dem Café und entdeckt im einkaufsstraßigen Gewühl „ein Paar pflaumenblaue Ballerinas, zwei scheue Wiesel, verloren im Getrampel“. Damit setzt jener Sog ein, dem sich auf den insgesamt 170 Seiten weder der Protagonist noch der Erzähler oder der Leser zu entziehen wissen.
Über zwei Tage und eine Nacht hinweg wird Philip der Frau unbemerkt folgen. Er wird beobachten, wie sie sich einen Pelzmantel aushändigen lässt, wie sie die Bahn in die Vorstadt nimmt und wie sie in einem unscheinbaren Wohnhaus verschwindet. Er wird ganz in der Nähe in seinem BMW übernachten, versuchen, in das Haus einzudringen, und der Frau am nächsten Morgen wieder in die Stadt folgen. So viel sei verraten: Er wird niemals ihr Gesicht sehen, ihren Namen hören oder ihre Lebensgeschichte erfahren. Wieso aber riskiert ein wohlsituierter, anständiger und intelligenter Mensch seine Karriere, sein Renommee und seine Sittlichkeit? Was oder wer bedingt diese Selbstaufgabe? Auch der Erzähler ist ratlos, und aus diesem Unverständnis heraus entsteht qua Poetik der Mutmaßung ein brillant abgründiger Roman.
In „Hagard“ werden wir Zeuge einer allmählichen Verwahrlosung. Und Lukas Bärfuss findet sichtlich Gefallen daran, Philip alle möglichen zivilisatorischen Selbstverständlichkeiten zu entziehen: die Geldbörse, das Auto, das Smartphone, zur Mitte der Geschichte gar einen Schuh, als der Protagonist vor Fahrkartenkontrolleuren aus einem Pendlerzug flieht. (Diese und andere Szenen sind bitterster Slapstick – ohne jeglichen „ironic or comic relief“.) Zurück bleibt ein irrender Mensch, dessen Inneres sich trotz aller Verhaltensauffälligkeit nicht ergründen lässt. „Hagard“ verweigert sich klug den übereinfachen Kategorien des psychologischen Realismus?, der seine anödend herkömmlichen Geschichten immerzu mithilfe der Bausteine Trauma, pathologische Figur, Opfer und Rettung zusammenklotzt.
Denn der allegorische Anspruch, den „Hagard“ auf meisterhaft stilsichere Weise einlöst, ist viel gewagter: Der Roman will von uns, unserem Miteinander und unserer (medialen) Mentalität erzählen. Davon, wie die neuen Kommunikations- und Verwirklichungsmöglichkeiten den Menschen seiner körperlichen Daseinssouveränität berauben und ihn zum Wiedergänger seiner selbst machen, ge- und befangen zwischen nur mehr behaupteter Freiheit, Zukunftsverlust und dem Versuch, zu bestehen in einer Welt kurz vor dem Riss. Entsprechend dichtbesiedelt ist „Hagard“ von geisterhaften Gestalten, die symptomatisch sind für eine Zeit kurz vor dem Kippmoment, kurz vor dem Übertreten der Schwelle. (Andere Werke, die sich ebenso der schaurigen Zeitstimmung hingeben, sind im Augenblick Daniel Kehlmanns Erzählung Du hättest gehen sollen sowie Rudolph Herzogs Erzählband Truggestalten.) Die Erhabenheit, das eigene Leben nach eigens gewählten und als mündig erachteten Maßstäben zu führen, erlischt, ähnlich den Signalen der Blackbox von Flug MH370, über die Philip über allerlei Nachrichtenkanäle immer wieder informiert wird. Die glückliche Handhabung über unsere Leben entgleitet uns, und Philip, der sich ständig beobachtet fühlt, reagiert darauf mit einer archaischen Fokussierung. Er darf die mysteriöse Frau keinesfalls aus dem Auge verlieren, denn nur mehr in ihrer Nähe „fühlt er sich kräftig“ und „weiß, wozu er geboren wurde.“
Durch ein anderes Projekt der unbedingten Konzentration tritt zeitgleich der Erzähler als zweite Hauptfigur hervor, ohne dass diese Ebene wie eine postmoderne Anbiederung wirkt. Immer wieder wird davon berichtet, wie sehr sich der Erzähler damit abmüht, den Ereignissen narrativ gerecht zu werden. Irgendwann bricht er die Arbeit am Manuskript gar ab und reist nach Venedig, nur um der Lagunenstadt rasch wieder zu entfliehen – ein koketter Wink hin zu Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“, in der es auch um Selbstaufgabe und sexualisiertes Stalking geht. Über eben diese Novelle schrieb Mann 1913 an einen Freund: „Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein.“ Lukas Bärfuss ist mit „Hagard“ Gleiches gelungen. Der Roman erbringt den untrüglichen Beweis herausragender Autorschaft: Sein Verfasser schreibt derart exakt und mitreißend von unserer Zeit, als zehre seine Literatur nicht nur vom Chaos des Jetzt, sondern ebenfalls von der Übersicht des Danach. Das Buch ist auf der Höhe seiner Zeit – und sein Autor auf der unbestreitbaren Höhe seiner Kunst.