Tijan Sila: Tierchen unlimited

von Samuel Hamen
April 11, 2017 / 0 Kommentare

Es ist nicht einfach, sich zu behaupten, weder in Sarajevo, wo „Menschen jeden Morgen mit dem Gedanken aufwachten: ›Lieber Gott, lass mich heute nicht sterben. Ich bin zu jung. Ich habe Besseres verdient‹“, noch in Heidelberg, der „Stadt voller Flachzangen“, dem „Loch“, das „nicht einmal einen Fußballverein“ aufzuweisen hat. In Tijan Silas Roman Tierchen unlimited bilden die beiden Städte das Koordinatensystem, in dem der namenlose Ich-Erzähler konfus umherstrolcht.

Tijan Sila erzählt auf gut 220 Seiten eine Migrationsbiografie: Als 14-Jähriger flieht der Protagonist im Sommer 1994 mit seinen Eltern aus Sarajevo nach Deutschland. Er wird seine Jugend im pfälzischen Haßloch verbringen und später in Heidelberg studieren. Wer sich nun auf eine handelsübliche Fluchtgeschichte aus der Hölle des Balkans hinein ins helldeutsche Paradies einstellt, erlebt gleich zu Beginn eine Überraschung: „Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad. Das Blut floss aus Platzwunden, die ich auf den Lippen und Augenbrauen hatte, und aus meiner Nase, es sammelte sich in dunklen Zeilen auf meiner Brust.“ In einer klugen Umstülpung der Verhältnisse setzt der Roman mit einer entgegengesetzten Fluchtbewegung ein. Denn Tierchen unlimited möchte vor allem eins nicht sein: Migrationsliteratur mit den üblichen Verdächtigen.

Nachdem der blutende junge Mann von Seite 1 vom Nazibruder seiner damaligen Freundin Leonie verprügelt wurde, pedaliert er angstdurchsetzt durch die deutsche Pampa, um dem „irren deutschen Zorn“ zu entkommen. „C’est la guerre“ – so wird der Protagonist später seine Kindheit resümieren, die der Leserschaft in Rückblenden erzählt wird und von Bombenhagel, dem Tauschen von Comics und Jungsfreundschaften in Sarajevo handelt. Der Spruch ließe sich nach dem Lesen von Tierchen unlimited leichthin erweitern: „Partout c’est la guerre.“ Auch wenn die deutsche Wirklichkeit oberflächlich glattgebügelt wirken mag, ahnt der Ich-Erzähler, dass „in Deutschland weit mehr Gewalt stattfand, als ich wahrnahm“. Das liegt vor allem an den Nazifiguren, die immerzu im Buch auftauchen und sich entladen wie Gewitterwolken im August. Alle träumen sie von einem Rechtsruck, alle gehen sie letztlich erbärmlich zugrunde. Die Sehnsüchte des Ich-Erzählers hingegen sind bescheiden: Er sehnt sich nach Ruhe und beschaulichem Warenkapitalismus, nach dem befriedeten Konsum, nach dem Erfüllbaren.

Neben Leonie, Melanie und Grace gehört Sarah zu den Figuren, die sich um den Protagonisten tummeln. Sie ist dessen erste Schulfreundin, wird später Polizistin und ist ihm Bodyguard und Seelenverwandte zugleich. Alle vier Frauenfiguren haben wenig Konturen, sie werden fahrig herbeierzählt und verschwinden schnell wieder im Wust der Handlung. Flott liest man sich  durch die Eskapaden hindurch, etwa wenn der Ich-Erzähler zusammen mit Grace in Heidelberger Beamtenwohnungen einbricht, Prügelfahrten zu linken Studenten unternimmt oder beinahe durch den Verfassungsschutz verhaftet wird. Vieles bleibt dabie angeditscht, im Seiten- oder Rückblick kurz angeteasert, bevor die Hauptfigur ihrer nächsten Episode entgegenstolpert. Leider bleibt Tierchen unlimited an vielen Stellen Ankündigungs- und Skizzenprosa, etwa wenn mit Floskeln wie „Das lief folgendermaßen“ die nächste Schilderung vorbereitet wird. Einmal gerät der Ich-Erzähler in eine krimiartig annoncierte Spitzelaffäre. Im Auftrag von Sarah soll er eine seiner ehemaligen Freundinnen, Melanie, in einer Germanistik-Vorlesung beschatten. Eigentlich ermittelt Melanie für den Verfassungsschutz in der Neonazi-Szene, wird aber verdächtigt, selbst zum rechtsterroristischen Untergrund übergelaufen zu sein. Auf einigen wenigen Seiten wird dieser Erzählstrang aufgenommen, zusammengeknüllt und abgewickelt.

Dabei ist diese Episode besonders aufschlussreich: In der unverhohlen hanebüchenen Konstruktion zeigt sie, worum es in diesem Debüt eigentlich geht. Auch wenn der schnoddrige, bisweilen heitere Tonfall auch darüber hinwegtäuschen mag: Tijan Sila präsentiert uns Kleinstgeschichten über zerrüttete Gesellschaften, über Verdachtsfälle, das Ende des Vertrauens und eine Brutalität, die in Körpern und Gedanken lauert. Die Gewalt, die er dabei schildert, schwelt im kriegszerfetzten Sarajevo ebenso wie im vermeintlich heimeligen Heidelberg, sie sucht den Ich-Erzähler ebenso heim wie den prügelnden Neonazi von nebenan. Diese illusionslose Sicht bewahrt den Autor letztlich auch davor, die Figuren einem allzu einfachen Opfer- und Täterschema preiszugeben.

Zugleich stellt Sila jene geistreichen und spitzzüngigen Deutschland-Diagnosen auf , denen sich das deutsche Publikum in einer Mischung aus Schuld, Lust und Scham so gerne hingibt: „Jedem Nazi wohnt ein Hermann Löns inne; sie sind verkümmert und untalentiert, haben aber zugleich das intensivste Verlangen nach Kitsch – und wenn dieser in der Natur zu finden sein soll, wird das hässliche Mountainbike aus der Garage gezerrt. Es sieht aus wie ein Panzer.“ Was den Roman (wie auch Pascal Richmanns Debüt) vor allem lesenswert macht, sind diese Kommentare über Deutschland und seine Bewohner, über die „BASF-Rentner, die von einem Vereinstreffen heimkehrten“, die Vorstädte mit ihren „Rollläden, Doppelverglasung, Terrakotta, Maschendraht und Carports“ und die vielen Nazis, diese „hässlichen, verkümmerten Hüftspeckmenschen, die in einer Wirtschaft randalieren und friedliche Akademiker verprügeln wollten, aber sich so ernstnahmen, als seien sie Kreuzritter“.