Philippe Garnier: Lob der Lauheit

von Samuel Hamen
April 2, 2019 / 0 Kommentare

In ihrem Song Heaven kürten die Talking Heads das Nicht-Ereignis 1979 zum paradiesischen Moment: „Heaven, heaven is a place, a place where nothing, nothing ever happens. It’s hard to imagine that nothing at all could be so exciting, could be so much fun.“

An diesen Zeilen dürfte auch Philippe Garnier Gefallen finden – schließlich trägt ein Kapitel in seinem Essay Lob der Lauheit den Titel Letzte Refrains. Auch in der Struktur von Liedern spürt der französische Autor und Herausgeber dem „mittleren Wert“ nach, bei dem ihm zufolge jegliche Radikalität auf Grund läuft. Der Refrain ist ein solcher „neutraler Punkt“: Die Zuverlässigkeit, mit der er wiederkehre, beruhige und besänftige den lauen Menschen.

Die Lauheit stellt Garnier als einen habituellen Modus vor, als eine spezifische Praxis des Fühlens, Schauens und Genießens. Gemeint ist ein relationales Denken, das jeglichen Exzess vermeidet: Es gilt, weder warm noch kalt zu duschen, weder zu schreien noch zu murmeln. Damit ist Garniers Lauheit eine Einladung an alle Sowohl-als-Auchler, an jene, die im Fitness-Studio die Hanteln weglegen, sobald sie anfangen zu schwitzen, an alle Aprikosenbiertrinker, deren Getränk herb, aber bitte auch ein bisschen süß schmecken soll. Das Ziel besteht darin, dem lauen Menschen als Sozialtypus eine Kontur zu verpassen. Ihm will Garnier ein Gründungsdokument schenken: „Niemals überrascht sein: politisches, ästhetisches, ethisches Programm.“

Geschrieben in der verkorkten Maisonette-Wohnung

An vielen Stellen ist der Essay dadurch zum Knigge für ästhetisierte Dösbaddel geworden, für die Trotter, Lümmler, Rumgucker und Trödler dieser Welt. Diesen Mattherzigen bietet Garnier auf sechzig Seiten ein eigenwilliges Inventar an. Dazu zählt er unter anderem das Taschentuch („eine Sache, die mit der Waffe in der Hand verteidigt werden muss“), den Teppichboden („als die Fußsohlen noch staunen konnten über solche Hingabe“), das gemächliche Kauen (der „Endpunkt eines ganzen Lebens“) sowie die Waschmaschine („führt uns eine Strapaze vor, die hübsch anzusehen ist“). Teilweise klingt das, als habe der Autor seinen Text auf parfümiertes Briefpapier geschrieben, in einem Zimmer, dessen Wände mit Korkplatten abgedichtet sind, in einer Pariser Maisonette-Wohnung, die über Dienstbotenzimmer verfügt. Garnier schreibt Satzwolke um Satzwolke, lässt genüsslich vorgetragene Sentenzen auf wattig eingepackte Pointen folgen. Der Stil soll dem Wesen der Lauheit entsprechen: ein wenig benennen, ein wenig vernebeln, dabei bloß nicht unwirsch klingen. Aber der Sound trägt durchaus über die kurze Spanne, gerade weil der Autor hemmungslos aristokratisch daherredet.

Bei näherer Betrachtung ist der Essay aber aus einem anderen Grund lesenswert: Die eigenwillige Möblierung lauen Lebens, wie Garnier sie vornimmt, ist als polithabituelle Positionierung zu verstehen. Den vielen intellektualisierten Ratgebern dazu, wie denn nun heute zu denken und zu handeln sei, fügt er ein zusätzliches Angebot hinzu. Die einen lassen sich „Get Up“ auf den Unterarm tätowieren, die anderen treten den Rückzug in die wohltemperierte Wohnung an. Wer will, frönt der subversiven Affirmation. Oder kombiniert Effizienz und Altruismus.

Und erst 2017 hat der französische Philosoph und Romancier Tristan Garcia mit Das intensive Leben einen bemerkenswerten Essay vorgelegt, der die Intensität als ethisches und ästhetisches Paradigma fasst. Seit dem 18. Jahrhundert gelte für den Westen: „Ganz gleich, was die Sache sein mag, Hauptsache, sie ist es mit Intensität.“ Die Lauheit ist eine mögliche Entgegnung auf diesen Zwang zur intensiven Performanz, den auch Garcia kritisiert. Statt bis zur Erschöpfung wirklich und wahrhaft zu leben und sich dadurch eben auch den Extremismen unserer Zeit auszuliefern, reicht es dem Lauen, okay und hübsch durch den Tag zu kommen.

Wider die kollektive Euphorie

Kein Wunder also, dass sich Lob der Lauheit gegen die vielen Anpacker dieser Tage und die Glorifizierung ihrer Taten als heroische Praxis stellt. An diesem Punkt gewinnt das Buch zusätzlich an Dringlichkeit. Den Helden und ihren Kämpfen steht Garnier nämlich zutiefst skeptisch gegenüber. Tolstois Protagonisten etwa, die gefestigt aus einer leidvollen Prüfung hervorgehen, sind ihm zuwider. Gegen das Ideologem des Stahlbads und seiner lebensverändernden Wirkung stellt Garnier eine seifige Hymne der Badewanne. Sie soll „eine Art geheimer Zuflucht“ sein, in ihrem „Glanz der Nutzlosigkeit“ erstrahle der Laue ganz besonders. Mit seinem scheu gepflegten Individualismus stellt sich Garnier auch gegen den Rausch der leidenschaftlichen Masse, gegen die „kollektive Euphorie“, die immer eine Katastrophe ankündige. Und die fragwürdige Evidenz wuchtiger Schönheit, die keine Widerrede erlaubt, wird gekontert mit dem ästhetischen Amüsement beim Lauschen der Xylofon-Supermarktmusik.

Als Wagnis der Wagnislosigkeit ist das Brevier, das bereits 2000 im längeren Original (173 Seiten) veröffentlicht wurde und ein Jahr später auf Deutsch erschienen ist, in die Relevanz hineingealtert. Das mag der Grund sein, wieso die Verlagsbuchhandlung liebeskind es in gekürzter Fassung erneut aufgelegt hat. Denn fast zwanzig Jahre inklusive war on terror, Finanzkrise, Klimawandel, gesellschaftspolitischer Verspannung und autoritärem Backlash haben ihre Spuren hinterlassen. Tatsächlich wirkt das Lob der Lauheit im Jahr 2019 wie die überfällige Reaktion auf die Zeitumstände.

Die Verseufzung des Denkens

In Life during wartime, einem weiteren Song der Talking Heads, der wie Heaven auf dem Album Fear of Music zu finden ist, singt David Byrne: „This ain’t no party, this ain’t no disco. This ain’t no fooling around, no time for dancing, or lovey dovey, I ain’t got time for that now.“

In ihren Lyrics war die Band so konsequent, dem gerade noch ausgerufenen Paradies der Lauheit die höllische Realität des Da-Draußens entgegenzuhalten. So sehr man das eine herbeiimaginiert, so sehr muss man sich dem anderen stellen.

Eine so verstandene dialektische Aufrichtigkeit liegt der Lauheit aber nicht. Garnier gibt denn auch freimütig zu, die meisten Lauen seien feige. Das eigene Konzept in seiner Widersprüchlichkeit zu durchdenken, hieße, einzusehen, dass aus dem Wunsch, immerzu unbescholten herumzuflanieren, Schaden erwachsen kann. Dass die Verseufzung des Denkens zwar Effekte der Mäßigung hervorbringt, die der agonalen Art, wie wir gerade miteinander sprechen und streiten, zugutekämen. Zugleich würde er bemerken, dass sein Traum eines schadlos sedierten Lebens, so „leicht, ätherisch, harmlos“ es auch sein mag, auf Kosten einer energetisierten Gesellschaft geht.

Wuchtige Helden und ihr Gehabe müssen wir uns gewiss nicht zurückwünschen. Ob aber der Teppichboden-Akolyth der geeignete Typus für ein beherztes Leben im 21. Jahrhundert ist, ist ebenso fraglich. Immerhin bietet uns das Lob der Lauheit einen Modus für die Pause an, für den geordneten Rückzug auf Zeit, um zu erschlaffen, zu verschnaufen und sich zu sammeln. Und in einer gut sortierten Buchhandlung ist es nicht weit von Garnier hin zu Garcia und seinem intensiven Leben. Dieser Schwenk ist sogar den immer müden Armmuskeln der Lauen zuzutrauen.