Axel Milberg: Düsternbrook
Nach der Lektüre von Axel Milbergs „Düsternbrook“ weiß der Leser so einiges: Der Platzwart vom Tennisclub hieß von Moltke und mochte Weißweinschorlen. Als der kleine Axel an der Ostsee war, steckte er sich einen Stein ins Ohr – es gab erst ein Tohuwabohu, anschließend eine OP unter Vollnarkose, dann war wieder alles heil. Die Klavierlehrerin hieß Wilhelmsen und trank ihren Kaffee immer um Punkt drei Uhr nachmittags. Als der nicht mehr ganz so kleine Axel irgendwo hochkletterte, piekte er sich an einem Nagel – wieder gab es ein Tohuwabohu, wieder musste er ins Krankenhaus, wieder war die Welt anschließend heil. Der Pastor hieß Husfeldt und las Nabokov. Ein dritter Krankenhausaufenthalt ist nicht überliefert, aber eigentlich könnte das bei „Piper“ erschienene Buch in diesem Anekdoten-Modus endlos weitermachen.
Allein sich zu erinnern ist keine schriftstellerische Leistung. Diese Einsicht geht Axel Milbergs Erzähler leider ab, und so verfängt sich diese autobiographische Retrospektive auf eine Kieler Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren in der solipsistischen Überzeugung, die eigene Wahrnehmung halte etwas Außerordentliches parat: „Manchmal hatten seine Eltern am Wochenende Freunde zu Besuch, dann tanzten die Paare im Wohnzimmer zur Musik von Sinatra und aßen Salzstangen und Nüsschen und tranken bunte Cocktails. Krischans Vater nahm seine Mutter in den Arm und lachte mit ihr zusammen. So was hatte ich bisher noch nicht gesehen, Paare, die tanzen und dabei Gläser mit grüner Flüssigkeit schwenken.“
Tennis und Treibjagden
Das Debüt scheitert schlichtweg daran, die privaten Gefilde zu verlassen und die Erfahrungen einer an diesem Leben eigentlich unbeteiligten Leserschaft näher zu bringen. Lediglich eingefleischte Fans des Tatort-Kommissars dürften auf ihre Kosten kommen. Denn Milbergs Erzähler verfügt weder über jene schelmische Ironie, die es ihm erlauben würde, den Szenen über die Jahrzehnte hinweg ungeahnte Einsichten abzugewinnen. Noch ist den Episoden jene vitale und magische Dringlichkeit eigen, die gelungene Kindheitserzählungen so lesenswert macht.
Die verschwitzt-verschmitzten Tennisrunden mit der Angehimmelten sind stilistisch so pointenarm wie die Treibjagden mit um sich ballernden Adligen, die die Därme toter Hasen ausdrücken, bevor die Erbsensuppe mit Speckstücken in Angriff genommen wird. So etwas beeindruckt den lebenshungrigen Axel natürlich; noch nie habe er, hält er später fest, etwas so Köstliches gegessen. Aber Leser und Leserinnen, die sich mehr erwarten als Pappmaché-Memoiren, tun sich mit diesem Kieler Allerlei auf fast 300 Seiten recht schnell recht schwer.
Das Portrait einer vereinsamten Mutter
Lediglich zwei Erzählstränge durchbrechen die naive Selbstschau in „Düsternbrook“. In Schlaglichtern wird das zärtliche Portrait einer vereinsamten Mutter durch die Augen eines einfühlsamen Sohnes entworfen. Sie sei, notiert dieser an einer Stelle, weltfremd und auf scheue Art aggressiv: „Sie hockte auf der Rückbank, niemand war hinter dem Steuer, was seltsam aussah, und als ich den qualmenden Auspuff bemerkte, verlangsamte ich meinen Schritt. Der Motor lief hochtourig und dröhnte, als hätte jemand, zum Beispiel ein großer unsichtbarer Hase, der Harvey hieß und Papas Schüssen entkommen war, den Fuß auf dem Gaspedal. Ich ging um das Auto herum. Alle Autoscheiben waren beschlagen, denn meine Mutter atmete heftig im Auto und schwitzte. ‚Simca‘ stand unterhalb der Motorhaube. Gerade wischte sie die Heckscheibe. Sie sah mich durch eine ovale Stelle, auf der sie mit dem Tuch immer wieder rumrieb, aber sie reagierte gar nicht auf mein Winken.“
Aber die Kapitel in „Düsternbrook“ sind kurz, ihre Aufmerksamkeitsspannen begrenzt. Gerade hat man sich auf die Mutter eingelassen, schon wendet der erzählende Sohn sich anderen Belangen zu, etwa Besuchen bei Gräfin Donner oder dem Dreiteiler seines Großvaters. Als Kontrastprogramm zu diesen offensichtlichen Nebensächlichkeiten wurde dem Buch eine separate Psychopathen-Geschichte beigegeben. Ein Outsider wird beschrieben, der sich darauf vorbereitet, Kieler Jungs zu kidnappen und zu missbrauchen. Der eifrige Wink zu Heinz Strunks Serienmörder Fritz Honka aus „Der goldene Handschuh“ ist evident, der Wunsch nach einem gruseligen Spezialeffekt nebst all dieser Mnemo-Monotonie ebenso.
Ein Riss zieht sich durch den BRD-Mief
Das Manöver ist zudem als eine Maßnahme gegen die adrette Alles-ist-wieder-gut-Idylle im Nachkriegsdeutschland zu verstehen, in der für vieles kein Platz vorgesehen war: weder für Ehetragödien noch für latente Gewaltszenerien oder die NS-Vergangenheit von Papa, Opa und Gräfin Donner. Die Entführungsgeschichte stört diese flache Falschheit ebenso wie die fiebrige Phantasie des jungen Axel, der nach dem Vortrag eines Schweizer Pseudo-Wissenschaftlers von Verschwörungstheorien und Außerirdischen fabuliert: „Aber natürlich, ja, ich war überzeugt, dass dieser Gast aus der Schweiz mit den vielen weißen Zähnen da vorne recht hatte. Gibt es nicht wirklich überall Spuren um uns, die von frühen Besuchen aus dem All erzählten? Die erklärten, was sonst unerklärlich wäre?“
Etwas stimmt nicht, etwas darf nicht stimmen. So glatt und steif dürfen die älteren Generationen die Welt einfach nicht bügeln. Deren erinnerungspolitischer Bequemlichkeit wird eine verfinsterte Imagination entgegengesetzt. So frisst sich nach und nach ein Riss durch den bundesrepublikanischen Mief, der auch über dem Kieler Nobelviertel liegt. Ein Abgrund aus Verdrängtem, Überlagertem und Wegpoliertem tut sich auf, den Frank Witzel und Philipp Felsch vor zwei Jahren in ihrem Gesprächsband „BRD Noir“ kongenial beschrieben haben.
Mit „Düsternbrook“ legt Axel Milberg die schematisierte Fassung davon vor. Beizeiten wirkt es so, als seien die Passagen zu den Aliens und zum Kidnapper pro forma integriert worden, um diesem Leichtgewicht von Roman ein wenig mehr kulturhistorischen Ballast anzuhängen. Dazu passt, dass der unorganische Erzählstrang über die Entführungen ohne wirkliche Pointe zerfasert.
Wieso, weshalb, warum?
Nachdem ein Flirt mit seinem Schwarm Lili gründlich misslingt, fragt der trübselig-pathetische Axel sich etwa in der Hälfte des Romans: „Alles war so tief und bedeutend. Warum?“ Auch wenn er sich im Folgenden noch mit vielen weiteren Sätzen an dieser Frage abarbeitet, kommt der Erzähler einer Antwort bis zum Schluss keinen Deut näher. Zu schwach ist in diesem Roman die literarische Sprache, die weder Rhythmus noch Bilder für dieses gelebte Leben findet, zu arglos zündelt hier jemand an seinem privaten Lagerfeuer herum, um sich seine Geschichten letztlich doch nur selbst zu erzählen.