Yoko Tawada: Sendbo-o-te

von Samuel Hamen
August 16, 2019 / 0 Kommentare

Auf einer Wiese hat er noch nie gespielt, der junge Mumey. Aber in seinem Innern hat er sich das Bild von einer „Wiese“ gemalt, das ihm als Ersatz dient. Immerhin. Seinen herbeiphantasierten Rasen hegt und pflegt er wie ein eifriger Gärtner. Nur wenige Zeilen benötigt Yoko Tawada zu Beginn von Sendbo-o-te, um das prekäre Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt auf den Punkt zu bringen. Damit steckt sie zugleich den Rahmen ihres neuen Romans ab, der von Peter Pörtner aus dem Japanischen übersetzt wurde.

Eine umfassende ökologische Krise führt zu einem Reshuffling der japanischen Gesellschaft. Insbesondere das soziale Miteinander hat sich in Tawadas Zukunftsentwurf verändert: Verschiedene Regionen des Inselstaats haben sich zu Agrar-Gesellschaften entwickelt, die der Retropie des Bauerntums nachgehen und nur mehr für den Eigenbedarf produzieren. Die Einwanderung wird kontrolliert, gute Chancen haben Kinderlose und jene, die sich sterilisieren lassen. Die Nachgeborenen sind von Geburt an „immer ein wenig krank“, ihre Körper schwächlich und lädiert. Sie können nur aufgeweichtes Brot essen, selbst das morgendliche Anziehen erschöpft Kinder wie Mumey. Gleich auf der ersten Seite wird dieser mit einem Küken verglichen, und dieses Stadium der niedlichen Hilflosigkeit wird er wegen einer Zellzerstörung, die um sich greift, nicht so bald verlassen.

Pflege und Sorge übernehmen andere, im Fall von Mumey dessen über hundertjähriger Urgroßvater Yoshiro. Denn die Alten sind robust und scheinen nicht sterben zu können. Diese Störung der generationellen Abfolge führt zu einer Umstülpung des gesellschaftlichen Vertrags, einer Veränderung, derer sich auch Mumey bewusst ist: „Erwachsene können leben, auch wenn die Kinder sterben. Wenn die Erwachsenen aber sterben, dann können die Kinder auch nicht mehr leben.“ Die Alten befällt Schwermut beim Anblick ihrer Nachkommen, die ihrerseits einen bemerkenswerten Gleichmut an den Tag legen: „Wie ein Meer sich dem Sturm überlässt“, so lässt Mumey Müdigkeitsanfälle und Hustenkrämpfe über sich ergehen.

Kein Utopie-Service

Vage ist im Buch von einer Katastrophe die Rede, ohne dass Details genannt werden. Irgendetwas ist halt passiert. Die gegenwärtigen Ängste rund um Kernschmelze, Aufwärmung der Meere, Übersäuerung der Böden und Verseuchung der Lüfte kippt die Autorin in einen unergründlichen Schlund hinein, um das Urgroßvater-Urgroßenkel-Duo anschließend entlang des Abgrunds tänzeln zu lassen. Ihr Sound ist dabei von einer bemerkenswerten Leichtigkeit. Tawada frönt keinem Ohje-Alarmismus, der sich in visionärer Selbstgefälligkeit verliert, weil er meint, die ach so schlimme Zukunft ach so genial vorwegzunehmen. Von diesem katastrophischen Gehube, wie es Alarmknopf-Romane wie Christian Torklers Platz an der Sonne oder Omar El-Akkads American War zelebrieren, ist sie auch stilistisch meilenweit entfernt. Ihre Sprache ist gewissermaßen autark geblieben, in ihr steckt der Keim unbefangenen Denkens und Schauens.

Zugleich bettet Tawada eine Reflexion über das Schreiben in Zeiten der Krise ein: Seinen letzten Roman brach der Schriftsteller-Greis Yoshiro ab, als er merkte, wie viele Namen fremder Länder er benutzte. Denn Japan fährt eine rigide nationale Abschottungspolitik, der auch die Sprache zum Opfer fällt. Fremdwörter sind verboten, die Namen ausländischer Städte werden nur noch im Flüsterton ausgesprochen. So ist Yoshiro seit längerem der Sinn von Literatur abhandengekommen: „Manchmal hatte er zwar auch Lust, eine ideale Welt zu beschreiben. Aber was hätte Mumey, wenn er es gelesen hätte, für seine eigene Welt daraus machen können?“

Ebenso verweigert Tawada sich, als schriftstellerischer Idealwelt-Service zu fungieren. Stattdessen offeriert sie uns abseits von Utopie und Dystopie einen dritten Modus, der weder sonderlich hoffnungsfroh noch besonders schreckhaft daherkommt. Der Roman jubelt „Na los!“ und seufzt „Na und?“, während Yoshiros und Mumeys Leben im verseuchten Tokyo ein wenig zugrunde geht und ein wenig aufblüht.

Ein aus dem Takt geratener Realismus

Um in dieser unverständlichen Welt mit obskuren Regierungsanordnungen, isolationistischen Restriktionen und einer Tendenz zur Archaik nicht vollends abzudrehen, bedient sich Tawadas Personal einer bizarren Imagination. In der Bäckerei fachsimpelt es darüber, ob es degenerativ oder fortschrittlich sei, als Krake umherzugleiten („Lerne geschmeidig zu sein wie die Mollusken!“). Auch Mumeys Phantasie driftet ab. Als in der Schule eine Weltkarte gezeigt wird, hat er den Eindruck, sein Körper und die Kontinente würden verschmelzen. Den terrestrischen Schmerz spürt er plötzlich am eigenen Leib, das Anthropozän wird körperlich: „Wasser aus geschmolzenem arktischen Gletschereis, der kalte Ozean, – meine Hirnmasse. Eine kompliziert eingefaltete Topographie. Meine Lunge ist die Wüste Gobi.“

Abseits des Schematismus von Rettung und Untergang führt Sendbo-o-te uns eine Munterkeit neuer Art vor, der zugleich eine große ratlose Müdigkeit anhaftet. Der Schluss, dem die Autorin Mumey entgegenschiebt, erhält diese poetische Ambivalenz zwischen Schwere und Schwebe aufrecht. Für die einen mag er das Versprechen fluider Identität und post-humanistischer Entgrenzung bergen, für die anderen eine herbe Trauer in Anbetracht eines unumstößlichen Endes. „Ich möchte nämlich gern einmal alles mit anderen Augen sehen“, sagt Yoshiro an einer Stelle. Eben dieses Angebot macht uns Tawadas außerordentlicher Roman: Er schärft unsere Vorstellungskraft auf eine Weise, von der wir noch gar nicht so recht wissen, wie nötig wir sie eigentlich haben.