Alexandra Riedel: Sonne, Mond, Zinn

von Samuel Hamen
Juli 21, 2020 / 0 Kommentare

Geht’s deutscher? Beim Leichenschmaus fallen Maden vom faulen Kirschbaum in die Suppen. Aber die Gesellschaft löffelt ihre Teller artig aus: „Zum Schluss den Teller ganz leicht ankippen, mit dem Löffel einen Halbkreis zeichnen, fertig. Köstlich!“ Die Etikette ist nun einmal alles, egal ob es sich dabei ums Suppeschlürfen oder ums Trauern handelt. In ihrem ersten Roman lässt Alexandra Riedel ihren Protagonisten das Begräbnis seines Großvaters besuchen, eines Astronomen, der ein uneheliches Kind hatte. Die richtige Familie verzieh ihm diesen Fauxpas nie, fortan galt die falsche Tochter, die die Mutter der Hauptfigur ist, als rotes Tuch.

Rotes Tuch, rote Linien, hochrote Köpfe: Gustav Zinn, der Enkel, der als Fluglotse auf einer kleinen Insel arbeitet, ahnt von Beginn an, auf was er sich einlässt. Er fährt zur Trauerfeier, parkt vor der Kirche, wagt sich in die Messe, lässt sich zum Schluss sogar überreden, im Haus seiner Zwangshalbfamilie zu übernachten. Bemerkenswert ist bei alledem, was sich Sonne, Mond, Zinn verwehrt. Denn das Familien-Get-Together, sei es in Form von Hochzeiten, Geburtstagen oder Begräbnissen, ist im Film ebenso wie in der Literatur ein längst abgenagter Genre-Knochen. Miefige Wohnzimmer und versoffene Onkel, hinterhältige Schwiegermütter und peinliche Eklats – eigentlich weiß man nur zu gut, was in diesem Format exzessiv ausgespielt wird.

Sich erinnern wie ein Soldat

Riedel hingegen ist ganz bei ihrem Ich-Erzähler, einem schildkrötenhaften Grübler, der sich zu nichts entscheiden kann: weder die Feier frühzeitig zu verlassen noch die Familie wegen ihrer Scheinheiligkeit herauszufordern. Seine Verachtung ist eine stille, sie bricht sich in seiner Imagination Bahn. Baldur, der Bruder des Verstorbenen, schreit nach der Madensuppe die Tischgesellschaft zusammen, um sich wie ein Soldat an brüderliche Golfpartien zu erinnern. Er kenne Anton! Er wisse, für was er gebrannt habe! Für Golf! Damals! Oh ja! Indessen malt sich der Enkel aus, wie sein Großvater mit dessen Ehefrau Golf spielt und sich heimlich überlegt, sie von der Klippe zu stürzen, „an einem sonnigen Frühlingstag mit freiem Blick auf das Rhonethal“, damit sie ihm endlich keine Vorwürfe wegen der Affäre mehr machen kann: „Unabwendbar! Furchtbar.“

Die bitterböse, immer wieder auch schwarzhumorige Phantasie wird der Hauptfigur zur Notwehr, um den Tag zu überstehen. „Was der da drin wohl treibt?, würden sie sich dann vermutlich fragen, und ich könnte sie Zeugen verborgener Szenen werden lassen. Vielleicht wahrer oder wahrscheinlicher oder möglicher Szenen. Von mir erdacht. Dir zuliebe. Also los, ihr da draußen, seht und hört genau hin! Hört ihr das? Das leise Klopfen an der Tür?“ Bei alledem ist Sonne, Mond, Zinn dem Homecoming verpflichtet, dem klassischen Muster der Rückkehr zum Ursprung: Nach dem Essen streicht der Protagonist durch das Haus und findet im Arbeitszimmer des Großvaters Fotografien, die seine Mutter zeigen. Riedels Debüt geht dabei der Frage nach, welches home hier überhaupt gemeint ist: der gekünstelt helle Ort einer heilen Welt, wie ihn der Rest der Familie zeichnen will? Oder doch eher der in seiner Stille dröhnende Raum, in dem zu vieles nie zur Sprache gekommen ist? (In der Hinsicht hat Riedel natürlich ein sehr deutsches Buch geschrieben.)

Die Mutter sehen und verstehen

Insgesamt spiegelt sich die eine intergenerationelle Traurigkeit in der anderen: Der unehelichen Tochter gelang es nie, sich ihrem Vater anzunähern. Auch der Sohn kämpft damit, seine Mutter zu verstehen, sie zu sehen als die gescholtene und verleugnete Tochter, die ein Leben lang unter ihrer Herkunft litt. Vieles bleibt bei diesem Erzählen wohlweislich im Dunkeln, manches aber auch schlichtweg auf der Strecke: Was passiert mit dem Autor, der von der Familie angeheuert wurde, um eine Biografie über den großen Astronomen-Patriarchen zu schreiben? Ihm gilt ein kurzes clownesker Auftritt, schon wird er aus dem Haus der Trauernden befördert. Wie wird die Übernachtung in dieser Horrorstätte der Verdrängung sein? Darauf gibt der Text keine Antworten, dafür hat er sich zu sehr auf das Atmosphärische spezialisiert. Das Ahnen, Sehnen und Sinnen sind seine Stärke, die Verknüpfung der Handlungsfäden gerät demgegenüber als zu konkret, ja banal ins Hintertreffen.

In diesem Sinne entspricht der Eindruck, dass hier so wenig an Kontur gewinnt, obwohl so viel so gut beobachtet wird, womöglich der etwas zu gemütlichen Pointe des Romans: Etwas bleibt verborgen, so sehr auch gegrübelt, gemutmaßt und erfunden wird. Wer mehr haben möchte, müsste sich halt auf Stammbäume, Biografien und Recherchen in Archiven und auf Dachböden verlegen, müsste sich also ins Zeug legen. Dafür aber fehlt dem phlegmatischen, mitunter rührseligen Protagonisten aus Sonne, Mond, Zinn die Energie: Fotoalben sind ihm nostalgische Orte, keine historischen Info-Center. Und so bleibt ihm, dem sentimentalen Zuschauer, auf den etwas mehr als hundert Seiten nichts übrig, als uns Zuschauern und Zuschauerinnen eine fragmentarische Familienchronik in Form einer melancholischen Abrechnung darzulegen.