Han Kang: Weiß

von Samuel Hamen
September 29, 2020 / 1 Kommentar

Wer Listen aufstellt bzw. liest, versteht mehr. Nicht unbedingt von der Ordnung der Welt, sondern davon, wie Leute mal geschickt, mal verzweifelt versuchen, diese Ordnung herzustellen. Die Logik von Listen führt der Twitterbot @EineListe ad absurdum, indem er Nachrichten nach Zählbarem durchsucht und als Liste veröffentlicht: So entstehen mal willkürliche, mal witzige, mal literarisch erstaunlich interessante Gebilde:

Auch Han Kangs Essay „Weiß“ nutzt zu Beginn den Reiz der Liste, um sein Thema abzustecken. Der Text setzt mit einer unscheinbaren Aufzählung unterschiedlichster Dinge ein: Babyhemd, Salz, Reis, blankes Papier und anderes. Diese Gegenstände stehen erst einmal unverbunden untereinander, ohne Bezug und ohne Sinn. Aber der Erzählerin liegen sie am Herzen: „Bei jedem Gegenstand, den ich notierte, hatte ich seltsames Herzklopfen. Ich fühlte, dass ich das Buch unbedingt schreiben wollte und dass mich der Schaffensprozess verändern würde. Er wäre für mich Balsam, den ich dringend benötigte, gewissermaßen weiße Salbe auf einer Wunde und Gaze, um sie zu verbinden.“

Das so dringlich verfolgte Schreibprojekt entspringt der Familiengeschichte. Die Mutter der Erzählerin verliert ihr erstes Kind bei einer Frühgeburt. Der Schmerz um diesen Verlust begleitet sie ein Leben lang; auch die später geborene Tochter (und Verfasserin von „Weiß“) trauert diesem Leben nach, befangen in Trauer und Schuld: „Hättest du doch nicht aufgehört, zu atmen. Wärest du doch am Leben geblieben, und hättest du all die Jahre statt meiner gelebt. Wäre es dir nur vergönnt gewesen, kraftvoll vorwärtszugehen, mit deinen eigenen Augen und deinem eigenen Körper, mit dem Rücken zu dem dunklen Spiegel.“

Methoden einer Trauernden

Die Liste ist vor diesem Hintergrund das Instrument einer Trauerarbeit. Ob nun Schnee fällt oder eine Möwe vorbeifliegt – die Farbe Weiß wird in kurzen Kapiteln von ein, zwei, drei Seiten zum Fetisch einer Figur, die nicht über den Tod der großen Schwester hinwegkommt: „Sie weiß nicht, warum weiße Vögel sie auf eine andere Art und Weise berühren als deren bunte Artgenossen. Warum sehen sie so ganz besonders schön, anmutig und manchmal sogar heilig aus? Hin und wieder träumt sie von einem fliegenden weißen Vogel.“

Einerseits garantiert diese Konstellation die Bedeutsamkeit aller Bilder. Jede Beobachtung ist wichtig, ja, auf verzweifelte Weise existenziell: wie der Schnee fällt, wie der Atem sich im Winter als rauchiger Hauch vor Mündern kräuselt. Schließlich verweist jedes Detail auf seine Weise auf die klaffende Lücke. Andererseits läuft das Schreiben Gefahr, willkürlich zu wirken, weil (teils sprachlich blass festgehaltene) Alltagseindrücke zu Chiffren eines unergründbaren Schmerzes werden. Zugleich muss der durchaus gerechtfertigte Einwand, dass „Weiß“ allerlei verkitscht Impressionistisches wie Notate zu schmelzenden Schneekristallen versammele, ins Leere laufen, weil die Erzählerin sich ja gerade auf das Einfache und Naheliegende fokussiert, um ihrem Gram Ausdruck zu verleihen. Und wer will schon die Methoden von Trauernden kritisieren?

Das Heraufbeschwören einer Alternative

„Weiß“ ist in seiner Eigenwilligkeit nicht nur interessant, weil es der immer beliebter werdenden Gattung des personal essays zuzuschlagen ist. Autorinnen wie Heather Christle („Weinen“, 2019) und Maggie Nelson („Bluets“, 2018) haben eindrücklich bewiesen, wie agil und experimentierfreudig dieses Genre ist. Als Formprojekt verdient „Weiß“ Beachtung, weil es ein prägendes Ereignis in seiner Negativität entemotionalisiert und auf Gegenstände und Material transferiert, seien es nun Zähne oder die eisschillernden Leiber toter Forellen. So wird die Dingwelt zur Projektionsfläche eines zutiefst menschlichen Leids, das einen auf geradezu unmenschliche Weise zurichtet: Statt die Geschichte auszuerzählen und breitzutreten, wird sie verdinglicht und darüber ins Symbolische enthoben.

Im Verlauf des Essays tritt neben das erzählende Ich eine zweite Figur. Als Stellvertreterin, Wiedergängerin und Traumbild der toten Schwester lebt diese namenlose Frau ein kurzes Leben in der Fiktion. Vorbereitet wurde ihre Erscheinung durch die vorherigen Kapitel, in denen die weißen Dinge beschrieben wurden. So fügt sich am Ende alles zu einer schamanistischen Anordnung: Durch das Sprechen öffnen sich andere, auch magische Räume. Wer Literatur wie Han Kang als eine solch beschwörende, mithin weihevolle Kraft versteht, kann in ihnen trauern, Trost finden – und der Wirklichkeit ihre Unnachgiebigkeit für einige wenige Seiten aufkündigen.

Samuel Hamen