Lorenz Just: Am Rand der Dächer

von Samuel Hamen
Dezember 10, 2020 / 0 Kommentare

„Berlin, du deutsches Zauberwort“, singt Sophie Hunger in Electropolis, einem Song von ihrem vorletzten Album Molecules. Die Hauptstadt muss seit Jahrzehnten, ach was, seit Jahrhunderten herhalten, wenn Leute ihre Träume ausleben oder den Flaneur in sich entdecken. Auch der 1983 geborene Lorenz Just schreibt sich mit seinem Debütroman in diese lange und immer mal wieder gefährlich langatmige Tradition ein. Am Rand der Dächer ist bei DuMont erschienen und erzählt vom Aufwachsen im Berlin der Neunzigerjahre, von der „allmählichen und lückenlosen Ausdeutung von Berlin-Mitte“, wie der Autor es im Gespräch mit seiner Lektorin ausdrückt.

Andrej lernt gleich auf der ersten Seite Simon kennen, mit dem er fortan die üblichen Freundschaftsdinge tut: über Brachflächen stromern, Softair-Pistolen kaufen, erste Biere trinken und das restliche Jungs-Tamtam. Die wilde Umbruchszeit nach der Wende klingt aus Andrejs Mund dabei so: Die Besetzer ganz in der Nähe seiner Wohnung sind ein „hektisches Piratenvolk“, und als er, der zu Beginn acht Jahre alt ist, sich zwischen labyrinthischen Dachgeschossen sonnt, wird sein „wunderbares Vagabundenlager“ gepriesen. Selbst die Aggro-Trottel, die mal Simon, mal Andrej anpöbeln, werden nicht als das benannt, was sie sind, nämlich Aggro-Trottel, sondern als „die Wegelagerer von der Friedrichstraße“, als gelte es, einen Erlebnisaufsatz über großstädtische Cowboys zu betiteln.

Soll sich die Tragik des Erwachsenwerdens in einer Sprache spiegeln, die nur mehr als Phrase von ihrem Gegenstand erzählen kann? Oder soll das Märchenhafte des jungen Blicks in diesem Karl-May-Sound seine Entsprechung finden? Das überzeugt schon deswegen nicht, weil der Erzähler seine eigene Kindheit regelmäßig historisch-kritisch kommentiert. Wenn der junge Andrej nach einer Basketball-Partie in seine Dragonball-Hefte „abtaucht“, fügt der alte Andrej im selben Satz an, dass das ja „gewaltverherrlichende Comics“ seien. Wenn man als Leser anfängt, solche Kollisionen zu spüren, ist das Direkte, das der Kindersicht innewohnt, jedenfalls längst auf der Strecke geblieben.

Der Blick des Heranwachsenden

Diese Konstellation bestimmt indes weite Teile des Romans: Die Hauptfigur, die die urbane Entwicklung und weltanschauliche Verschiebung jener Jahre am kindlichen Leib erfährt, hat natürlich kein soziologisches oder städteplanerisches Wissen, um die Lage zu bewerten. Sie ist ja erst neun, zwölf, dann vierzehn und damit (bis auf ein programmatisch anmutendes Interesse an Einschusslöchern) ziemlich polit- und geschichtsblind. Deswegen tritt der ältere Andrej auf den Plan, grob so alt wie der Autor, blättert durch alte Tagebucheinträge und will dem Text immer wieder so etwas wie Aussagekraft verleihen: „Dass diese Identität, an der wir uns orientierten, einen krassen kulturellen Keil zwischen uns und unsere ostdeutschen Eltern trieb, vertrug sich ganz gut mit der Entfremdung von ihnen, die in diesem Alter eh normal war.“

Es ist eine Art Begleitschutz, damit der Roman ja nicht zu kindisch-unkoordiniert daherkommt. Dabei hat Am Rand der Dächer das gar nicht nötig. Besonders stark sind die Szenen, in denen das Vielsagende als die Nebensächlichkeit erscheint, die sie für den Heranwachsenden nun einmal ist. Vor der Synagoge patrouilliert die Polizei, die Besetzer montieren Eisenstreben in die Erdgeschossfenster, wegen „der Faschos und so“, wie Andrej auf Nachfrage erklärt wird. „Yes, wir sind im Krieg“, ergänzt Lilly, ein Mädchen, mit dem er sich angefreundet hat. Annika, für die er später schwärmt, ist magersüchtig. Das Gespräch darüber ist sehr kurz; was soll ein überforderter Pubertierender auch dazu sagen?

Ins Loft einbrechen

Als Simon und Andrej älter werden und Legospielen keine Option mehr ist, fangen sie an, in Wohnungen einzusteigen, die sie von ihren Dachgeschoss-Erkundungen her kennen. So werden sie zu Racheengeln wider die Gentrifizierung, gekommen, um die Yuppies, Alteigentümer und sonstigen Finanzstarken zu strafen, die kapitalistische Riege also, die ihr charmant-baufälliges Berlin-Mitte nach der Wiedervereinigung für sich beansprucht. Die Einbrüche führen dabei zu nichts außer symbolischer Vergeltung, Adrenalin-Kicks und einer zu teuren Sonnenbrille, die den Argwohn des großen Bruders auf sich zieht.

Aber sie geben dem Text einen sozialkritischen Drall, indem sie vorführen, wie Räume samt ihrer Freiheitsversprechen allmählich verschwinden. Mitunter klingt das etwas linkskonservativ, wenn von „marktschreierischen Oberflächen der Werbeplakate“ die Rede ist, von der „neuen geschichtslosen Zeit“, die die renovierten Häuser mit ihrem „frischen Putz“ angeblich einläuten. Dann greift wieder die Märchenlogik, mit der der Erzähler, ein Enddreißiger, indes so nostalgieanfällig wie ein Endsiebziger, sein Viertel zuckergussartig überzieht: früher, ach ja, die gute alte Bausubstanz.

Verlorene Nähe zum Bruder

Das Einbrechen wird aber eh einigermaßen inkonsequent durchgezogen; das zeigt sich in der zweiten Hälfte des Romans, wenn Andrej sich für ein Austauschjahr in den USA anmeldet. Basketball, Hollywood und New York: „Alles blickte und horchte nach Westen.“ Die Lockungen, mögen sie noch so illusorisch sein, warten ab jetzt auf der anderen Seite des Atlantiks. Als die Familie den Siebzehnjährigen am Ende zum Flughafen bringt, vergisst der Vater den Blinker zurückzuschalten. Er tickt und tickt, während niemand in dem gottverdammten Auto es hinbekommt, auch nur einen kurzen Satz zum langen Abschied zu sagen: „Mein Vater kaufte mir noch eine Käse-Schinken-Stange. Meine Mutter führte uns zum Gate. Auch wie wir uns umarmten, habe ich vergessen.“

Es gibt sie immer wieder, diese schönen, kleinen Szenen, in denen der Erzähler sich zurückhält und der Text vergisst, dass er ein Berlinroman sein möchte. „Bis morgen oder so“, das waren einige Seiten vorher Simons letzte Worte an Andrej gewesen, mit denen eine Freundschaft und ein Lebensgefühl ihr Ende gefunden hatten. In ihnen liegt auch eine Trauer um verpasstes Sprechen und verlorene Nähe, die dem Roman seine stärksten Passagen abtrotzt, etwa als Andrej seinen Bruder auf LSD in der Wohnung findet und die Mutter vor Wut und Verzweiflung im Nebenzimmer heult: „Jahrelang hatte ich ihn nicht mehr angefasst, nicht mehr seine Hand gehalten, ihn nie umarmt, wieso auch, Berührungen waren ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach nicht mehr vorgekommen. Aber jetzt hielt ich ihn am Bein, spürte seinen Puls in meiner Handfläche, und er ließ es zu.“

Vielleicht tut es Am Rand der Dächer gut, wenn man sich weigert, mit ihm im Chor „Berlin, du deutsches Zauberwort“ zu murmeln, wenn man sich stattdessen auf diesen eigentlich typischen Jungen fokussiert, der ein typisches Jungsproblem hat, nämlich noch keine Sprache für sich gefunden zu haben.