Über Climate-Fiction
Es gibt Sätze, die analytisch so viel taugen wie eine Einschätzung zu Zahnbürsten von Dr. Best. „Die Welt geht unter“ gehört dazu, und je öfter dieser Pauschalsatz vorgebracht wird, umso inniger wünscht man sich mehr apokalyptische Differenzierung: Wessen Welt geht denn jetzt wo und wann unter? Wie lange dauert das ungefähr? Und wer kann uns eine Ahnung davon geben, wie sich das anfühlen könnte – vielleicht auch, damit es doch nicht so bald so weit kommt?
Zukunftsdenken zu kalibrieren, das war und ist seit mehr als zweihundert Jahren das Metier der Science-Fiction. Sie extrapoliert Gegenwart samt ihrer guten wie schlechten Potenziale, um erfahrbar zu machen, wie es sich lebt dort vorne, am Ende des Tunnels, wo es sehr hell, sehr dunkel sein mag – oder doch nur ganz normal. Zu ihrem imaginativen Business gehört auch, sich mit der Angstlust auseinanderzusetzen, die dann durchschlägt, wenn Gesellschaften in Schieflagen geraten, etwa durch die Unfähigkeit, ihre geschätzte Normalität mit einer bevorstehenden Disruption zu koordinieren, sei sie nun technischer oder eben klimatischer Art.
Climate-Fiction, kurz Cli-Fi, ist vor diesem Hintergrund einer der augenblicklich produktivsten Compagnons der Sci-Fi und findet seit einiger Zeit auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur immer sichtbarer statt. Anja Kampmanns Wie hoch die Wasser steigen lässt sich ihr ebenso zuordnen wie Helene Bukowskis Milchzähne, Yoko Tawadas Sendbo-o-te und die jüngst erschienene Erzählung Herbstwespen von Sabine Schönfellner. Auch die international erfolgreiche Romanreihe der Norwegerin Maja Lunde (zuletzt: Die Letzten ihrer Art) gehört dazu.
Jedoch: So breit (und vage) der Begriff des Klimas gestreut wird, um alle möglichen Umweltphänomene zu benennen, so weit (und vage) lässt sich auch der Begriff der Cli-Fi expandieren. Schließlich meint er dann – im Schulterschluss mit dem Nature Writing – alles Mögliche, was irgendwie mit Landschaft, Anthropozän und Ökologie zu tun hat. Wenn aber – überspitzt gesagt – jeder, der Baum auf Traum reimt, ebenso einen Relevanzboost erfährt wie Selfmade-Milliardäre bei ihrer fiktionalen Nebentätigkeit, weil halt das Thema „wichtig“ ist, hilft der Begriff nicht bei der Suche nach literarisch Interessantem. Das gilt gleichermaßen für Romane wie John von Düffels Der brennende See, in dem die Protagonistin gleich zu Beginn mit einem rührseligen sechsten Sinn fürs Landschaftliche ausgestattet wird, um im Folgenden wie ein menschgewordener Google-Alert-Ticker die Seiten zum Schlagwort Klimakrise zuzuspammen.
Insgesamt sei es wenig zielführend, Cli-Fi einzugrenzen und sie bloß „als Epochenstil, Gattung oder Genre“ zu verstehen, heißt es entsprechend im Programmtext der ersten Ausgabe des Climate Fiction Festival, das im Dezember 2020 im Literaturhaus Berlin veranstaltet wurde. Ihr liege vielmehr ein „Thema mit absoluter Relevanz“ zugrunde; sie sei „die notwendige Literatur unserer Zeit“, zugleich „die anspruchsvollste Literatur, wenn sie mit ihren Mitteln auf die größte Gefahr“ Antworten finden wolle, „auf die Drohung eines globalen ökologischen und zivilisatorischen Kollapses“.
Cli-Fi ist in diesem Verständnis tatsächlich weder ein Genre noch ein Motivkomplex, sondern schlichtweg: eine Bewegung, die am ehesten dem Wissen um zukünftige Schrecknisse auch deren Erfahrbarkeit hinzufügen will. Und schon gar nicht ist sie, in irgendeiner Form, Literatur um der Literatur willen. Es geht um Antworten, und die Frage ist offenkundig nicht oder nicht allein: Ist das ein gutes, ein schönes Buch? Cli-Fi ist demnach im wortwörtlichen Sinn Symbolpolitik, mit der es gilt, die Wahrnehmungen und Handlungen einer Gesellschaft, die sich einfach nicht bewegt, radikal zu verändern. Literatur wird in ihr zum Repräsentationsapparat, der unter anderen Mitteln diesem Zweck dient. (In einem zweiten Schritt ist damit auch die Literaturkritik gefragt: Mit welchen Kriterien möchte sie Cli-Fi bewerten? Wie artistisch gelungen sie ist? Oder ob sie es schafft, ihre Dringlichkeit zu vermitteln?)
Die Schriftstellerin Sina Kamala Kaufmann wird beim Climate Fiction Festival in diesem Zusammenhang dann auch über ihren Erzählband Helle Materie, ihr Engagement bei Extinction Rebellion und über „Literatur und Widerstand“ sprechen. Schon vor einiger Zeit fasste die Literaturwissenschaftlerin Stephanie LeMenager den Komplex in einem Gespräch zu Klimakrisen-Romanen folgendermaßen zusammen: „Wenn wir beachten, dass Science-Fiction weniger als ein Genre an sich und eher als eine Lebensweise funktioniert,“, dann sei es auch einfacher, „das Verhältnis zwischen Cli-Fi und sozialer Aktion“ zu sehen und Literatur als ein „Mittel hartnäckigen Handelns“ zu nutzen.
Unser Limbo-Zustand
Die Krux an Literatur ist nun, dass sie just dort interessant zu werden droht, wo sie sich in ihrer Eigenlogik Zwängen widersetzt, die von außen an sie herangetragen werden. Damit ist nun überhaupt nichts gegen Texte wie Helle Materie gesagt, höchstens gegen den wohlmeinenden Verwertungszusammenhang, in den sie – durchaus selbstbewusst – gestellt werden. Aber wird die Apokalypse literarisch erfahrbar, wenn die Literatur gemeinsam mit dem Aktivismus verhandelt wird, der sie verhindern soll? Und wer möchte diese Welt in Lesestunden wirklich betreten, wenn die Welt draußen schon so viele Züge von ihr trägt? Auch das ist die Krux der Climate Fiction: dass sie gar nicht so fiktional ist, das Ende des Tunnels kaum ein paar Jahre entfernt.
Zugleich wäre auch die Gleichsetzung von Cli-Fi und aktivistischer oder aktivierender Literatur ein Kurzschluss. Jüngstes und bestes Beispiel dafür ist der in diesem Herbst erschienene Roman Malé von Roman Ehrlich, der einerseits eine echte und eindeutige Climate Fiction ist, also eine aus der Gegenwart extrapolierte Dystopie. Gleichzeitig nimmt er sich der Fragen, welche Welten gerade untergehen und wie sich diese Untergänge beschreiben lassen, mit einer bemerkenswerten Lässigkeit an. Bei ihm sind irgendwann nach 2030 die Inseln der zerfallenen Malediven-Republik entweder versunken oder zu Müllhalden und Friedhöfen umfunktionalisiert. Auf der halb überfluteten Hauptinsel samt ihrer ehemaligen Hauptstadt Malé haben sich Ausgewanderte niedergelassen, ein Haufen Hartgesottener, Glücksuchender und Verzweifelter, an das Eiland gebunden in „unendlicher Freizeit, Langeweile und einer fundamentalen Heimatlosigkeit“.
Ein deutscher Lyriker, der ständig erwähnt wird, ohne jemals aufzutauchen, hatte seinem Verleger geschrieben, er hoffe, eine Situation vorzufinden, „die so wäre, wie er sich immer das Westberlin aus den achtziger Jahren vorgestellt“ habe. Der Schriftsteller Adel Politha wiederum lädt regelmäßig Gestrandete zum Essen und Erzählen in den Hühnersultan ein, in ein Restaurant, das in einer Welt, in der auch die Ironie abgesoffen und alles todernst und hanebüchen zugleich ist, tatsächlich so heißen kann. Stoff hätte Politha reichlich, fertiggestellt hat er indes keinen einzigen Roman. Bereits die Pose des Chronisten der Klimakatastrophe schürt ausreichend Eindruck, um sich selbst und der Inselgemeinschaft gegenüber als integrer Künstler zu legitimieren. Das Werk selbst? Vernachlässigbar. Die Pointe? Dass man ohne Zukunft gar nicht mehr schreiben muss und kann, was natürlich auch eine – paradoxerweise durchaus hoffnungsfrohe – Aussage trifft über das Buch selbst und den ganzen Bereich der Climate Fiction.
Und da ist noch etwas, was das Buch besonders erwähnenswert macht: Wer Ehrlichs Entwurf einer radikal anderen Realität liest, bemerkt, dass wir im Hier und Jetzt in einer Art Limbo-Zustand hängen: Während klimatisch die neue Welt längst über uns gekommen ist, sind wir gesellschaftlich und politisch an alte Muster des Verhaltens und der Wahrnehmung gebunden. Um diese Asymmetrie auszuhalten, wird anderswo artig fiktionalisiert. Irgendwie muss man ja auf die klimatische und repräsentative Bedrohungslage reagieren. „Das reale Bedrohungspotenzial der Bilder aus Kalifornien„, schrieb denn auch die Schriftstellerin Berit Glanz zu den dortigen Waldbränden und den orange gefärbten Himmeln, „die auf zukünftige Horrorszenarien vorausweisen, wird entweder durch die Abgrenzung von einer für gewöhnlich ästhetisch bearbeiteten Realität oder durch die Verbindung mit filmischen Dystopien markiert.“
Angstlust und Schönreden
Die Herausforderung für die Cli-Fi besteht in Anbetracht eines präfigurierten Umgangs mit Bildern der Apokalypse also darin, möglichst dringlich über eine als unwirklich empfundene Realität des Katastrophalen zu schreiben. Ehrlich tut das auf einem selbstkritischen Level, indem er seine Lebenswelt und Sinnzusammenhänge für einen Text zerbröselt, in dem andere überhaupt keine oder nur mehr klischierte Texte schaffen. Andere greifen auf altbewährte und starre Bildregister dystopischer Filme zurück, wieder andere auf gestalterische Mittel, die historisch (etwa in der Romantik vor mehr als 200 Jahren, der Dekadenzliteratur vor mehr als 100 Jahren oder in der naturmagischen Lyrik vor mehr als 50 Jahren) dazu dienten, idealistische oder artifizielle, auf jeden Fall aber anti-realistische Textwelten zu errichten.
Das ist eine Gefahr für die Climate Fiction, wie auch für das Nature Writing: dass sie mithilfe von vererbten Methoden, durch die die Erfahrung von Natur und Angstlust ästhetisiert und damit schöngeredet wurde, darauf hinweisen, wie gefährlich real und akut eben diese Erfahrungen geworden sind und sie genau dadurch irrealisieren. Ihr Apparat ist gewissermaßen démodée und legt so „die Kluft“ offen, die besteht „zwischen der Bedeutung dessen, was auf dem Spiel steht, und dem engen Repertoire an Konzepten und Gefühlen, mit denen wir versuchen, diese Fragen anzugehen.“ (Gaia Global Circus) Anja Kampmanns Roman Wie hoch die Wasser steigen wurde von der Kritik genau das attestiert: Er sei zu schwärmerisch, zu schwebend in seinen Bildern, eine „literarische Fototapete“ ohne analytische Tiefe.
In diesem Dilemma der Darstellung sind auch einige von Ehrlichs Figuren in Malé gefangen, zum Beispiel eine TV-Crew aus Detroit, die anreist, um einen „essayistischen Dokumentarfilm“ über eine verschollene Schauspielerin zu drehen, die dem verschollenen Lyriker gefolgt ist. (Etwa die Hälfte von Ehrlichs Personal ist unauffindbar, Geister halt.) In Anbetracht der allgemeinen Kaputtheit jubelt die Regisseurin. Sie kann Dekadenz, geprägt durch ihr Filmstudium, nur als arty Effekt begreifen, nicht als soziale und politische Wirklichkeit: „Alles wirklich total fotogen, wenn das so weitergeht, dann yeah!“ Dann yeah was? Dann kann sie einen überwältigenden Film drehen, der „unter die Haut“ geht? Dann kann sie die Leute zu Hause wachrütteln, damit sie merken, wie weit der Untergang fortgeschritten ist? Ob die dafür noch empfänglich sind?
Nicht nur Ehrlichs Roman, auch Sabine Schönfellners Erzählung Herbstwespen hält bei alledem eine bittere Diagnose parat: Die Katastrophe war, ist und wird sein. Wer nicht aufpasst, liest Schönfellners kontemplatives E-Book, erschienen beim Verlag Mikrotext, als beschauliche Promenadenprosa, hier ein paar Hasenpfotenspuren nebst Rinnsal, dort ein verkokeltes Feld am Blickrand. Aber das Rinnsal war ein Fluss, das schwarze Feld ein bestellter Acker. Wir leben bereits in sterbenden Landschaften, und das verbreitete apokalyptische Phasenmodell – gut, Katastrophenereignis, schlecht – ist überholt. Das Attribut „postkatastrophisch“ ergibt in dieser Hinsicht gar keinen Sinn. Cli-Fi, sagt die Anglistin Stephanie LeMenager, helfe eben dabei, sich mit dem ökologischen Desaster, das längst stattfindet, zu familiarisieren. Es sei ein Angebot auch und besonders an jene, „die den Klimawandel noch nicht direkt erfahren oder nicht bemerken, dass sie ihn bereits am eigenen Leib erfahren“.
Auf Malé sind sie bereits zwei Schritte weiter. Es wundert niemanden mehr, dass das Meer bei Ebbe Berge an Müll zurück lässt, darunter ganze Traktoren. Die Ausgewanderten haben ihren Realitätssinn angepasst, und das heißt vor allem: Hoffnungen geschrumpft und Überzeugungen adaptiert. An Kunst sind nur die wenigsten wirklich interessiert. Der Doku-Film? Unklar, ob er abgedreht wird. Der Lyriker? Bleibt verschollen. Die Bibliothek eines auf der Insel ansässigen Professors? Ein „Büchergrab“, aus dem das Meer bald schon „tintigen Papierschlamm“ machen wird. Auch deswegen lohnt sich dieser Roman so sehr: Er verspottet sich selbst. Jedenfalls ist er so ehrlich, in Erwägung zu ziehen, dass Literatur in den Szenarien, die in ihr gerade mit so viel Engagement imaginiert werden, damit sie Szenarien bleiben, ohne wirkliche Relevanz sein wird. Das ist eine durchaus sympathische Perspektive, auch und gerade im Kontrast zu einer Literatur, die sich demgegenüber als unentbehrlichen Part aktivistischer Kreativität entwirft. Und sie ist damit ironischerweise tatsächlich aktivierend im Sinne der Literatur: Wer sie liebt und will, dass sie bleibt, möge auf eine Welt Acht geben, in der sie noch möglich ist.