Ulrike Draesner: Schwitters

von Samuel Hamen
März 3, 2021 / 0 Kommentare

Wer Kurt Schwitters’ Merz-Bau betritt, so lautet das Versprechen, setzt den Fuß in eine andere Welt: neue Räume, neue Sinnbezüge, neue Körpererfahrungen. Ab den 1920er Jahren arbeitet der Schriftsteller und bildende Künstler an einer begehbaren Groß-Collage, der im Laufe der Jahrzehnte ein geradezu mythischer Ruf zukommen wird: „Der Bau wuchs nur mehr nach innen. Wuchsen so nicht auch Gehirne? Das war ein Wunsch. Gehirn fehlte in diesem Land überall. Säulen und Nischen in einer Höhle in einer weiteren Höhle auf dem Rücken einer Höhle. Grotte: bald. Collage: ja, dreidimensional. Eine Skulptur, die man betreten konnte. Dynamisch, komisch, fies. Seit bald zwei Jahrzehnten arbeitete er daran. Der Bau war seine Heimstatt, sein Heiligtum, gemacht aus allem, was Mann-Mensch-MERZ in die Finger fiel. Seine irrste Idee. Seine brillanteste. Seine schönste.“

Kurt Schwitters schönste Idee nimmt auch in Ulrike Draesners biografischem Künstlerroman eine prominente Rolle ein. Ihr sei es darum gegangen, sagt sie im Gespräch mit ihrem Verlag „Penguin“, das Thema Flucht mit der Frage nach der Kunst zu kombinieren. Ihr Roman beginnt im Jahr 1936, als Schwitters Leben mehr und mehr aus den Fugen gerät.

Der braune Alltag

Mitsamt seinem Werk, das die Nazis als entartet bezeichnen, findet er sich in einer zunehmend totalitären Gesellschaft wieder. Die Häuser jüdischer Nachbarn werden zwangsgeräumt, die nazitreue Stiefmutter durchwühlt die Korrespondenz. In seinen Collagen arbeitet Schwitters, der den Dadaisten ebenso wie den Konstruktivisten nahestand, mit dem Zerbrochenen, Zerfetzten und Abgeschmierten, kurzum: mit den Trümmern der vorangegangenen Jahrzehnte: „Erkunden, wie aus zweckgebundener verbrauchter Materie allein durch Kombination und Rekombination etwas Unbegreifliches entstand. Das Geistige der Kunst hatte Kandinsky es genannt. Er nannte es MERZ.“

Aber es geht nicht nur um den Schwitters, sondern um die Schwitters, um Helma, Kurts Ehefrau, sowie um Ernst, den gemeinsamen Sohn. Er wird später, davon erzählt der dritte Teil des Romans, als Fotograf und Nachlass-Verwalter in einem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater und dessen Werk stehen.

Zwischen Hannover und Oslo

Draesner macht keinen Hehl daraus, dass auch in diesem Fall die Frau dem Mann den berüchtigten Rücken freihält, um so die Maschinerie hinter der männlichen Kreativität am Laufen zu halten: „Sie tippte, ordnete, verwaltete, besorgte Material, kochte für alle, machte den gesamten Haushalt, organisierte Kurts Reisen, seine Feste, seine Lesungen, lachte, prüfte, an ihr wurden Texte ausprobiert, an sie wurden sie hingesagt, sie kommentierte, verbesserte, hatte die weiterführende Idee.“

Aber die Frauen sind hier weit mehr als bloße Pappfiguren, die heranzitiert werden, um ein Argument vis-à-vis vom männlichen Geniekult zu platzieren. Helma wird mit ihren Ängsten und ihrem Trotz beschrieben, mit dem sie sich durch den braunen Alltag kämpft. Ihren Mann? Den sähe sie sicherlich nicht wieder, sagen ihr später zwei „Kunst- und Menschenschnüffler“, die ihr Haus zum wiederholten Male durchsuchen. Kurt Schwitters ist zu diesem Zeitpunkt bereits mit Ernst nach Oslo geflohen und versucht dort unter widrigsten Umständen, seine Kunst aufrechtzuerhalten beziehungsweise neu auszurichten: „Niemand in Oslo verstand, wer Kurt war. Ein kunstner? Kunstner im Exil? Man betrachtete seine Collagen, lächelte. So einer konnte vermutlich nicht einmal eine Tanne malen.“

Von Hannover aus verwaltet Helma wiederum das Werk, die Mietwohnungen, ihre eigenen Sorgen und die „Fraueneinsamkeit“, wie Draesner es nennt. Die Gestapo-Schnüffler werden indes Recht behalten. Als die Deutschen in Norwegen einmarschieren, fliehen die Exilanten nach Schottland. Später werden sie als „enemy aliens“, als feindliche Ausländer, auf der Isle of Man interniert. Erst 1941 kommt Schwitters frei und lässt sich in London nieder. „Das deutsche Leben“, wie der erste Teil heißt, endet 1944 mit Helmas Krebstod im unerreichbar fernen Hannover.

Exil in England

Und das „englische Leben“ beginnt: neue Umgebung, neue Sprache, neue Bekannte. Lediglich der künstlerische Reflex bleibt derselbe: mit einer kindischen Unerschütterlichkeit die Welt um einen herum neu und anders gestalten. In einer Scheune arbeitet Schwitters bis zu seinem Tod 1948 an dem sogenannten Merz-Barn, der einzigen Merz-Skulptur, die nicht zerstört wurde und heute in einer Galerie in Newcastle upon Tyne zu sehen ist. Im zweiten Teil gerät auch Edith Thomas in den Blick: Schwitters lernt sie in London kennen, gemeinsam mit Wantee, wie er sie nennt, zieht er nach Ambleside im Nordwesten Englands. Sie unterstützt ihn, während er, gezeichnet von den Entbehrungen jahrelanger Flucht und der Trauer um den Verlust seiner Hannoveraner Idylle, an seiner letzten Skulptur arbeitet.

„Er musste ihr nicht in die Augen blicken, um zu wissen, was sie fühlte. Die Nacht war er schwitzend wach gelegen. Ein Komma von einem Mond, umhüllt von Torffeuerrauch, war im Fenster gehangen. Sie würde seine Kleider waschen und bügeln, bevor sie sie verkaufte. Er hatte sie darum gebeten. Kurt an der Wäscheleine. All seine Hosen hatten ausgebeulte Knie. Ein paar Hosenkommas im Amblesider Wind.“

Es ist nur auf den ersten Blick ironisch, dass in „Schwitters“ ein Künstler samt Privatleben ausgeleuchtet wird, der doch mit knapp 8000 Werken dafür einsteht, das Leben bis zur Ununterscheidbarkeit in die Kunst münden zu lassen. Denn der Roman ist nicht an einer getreuen, ja penibel voyeuristischen Erkundung von Schwitters Interieur interessiert. Draesners Porträt operiert auf einem anderen Level: Ihre Sprache nähert sich seinem Denken an. „Schwitters, der Schwirrer“, wie er einmal in Anbetracht seiner quirligen Egomanie genannt wird, atmet in jedem ihrer Worte mit, als alberne Pointe, bitterer Kalauer oder amüsierte Verballhornung.

„Ein Exil erlebte man auf verschiedenen Höhen: oben, wo die Augen waren. Im Sitzen, zwischen den Stühlen. Auf den Knien. Stolpern, fallen, der Länge nach hingeschlagen. Wenn man Pech hatte, biss man ins Gras. Dann lag man weit unten, dort, wo die Wurzeln saugten.“

Diese „Scherzsucht“, wie Draesner es an einer Stelle ausdrückt, verleiht dem Roman eine Hast, mithin einen erschöpfenden Willen zum Stil, muss doch jedes Bild und jedes Wortspiel à la Schwitters gewendet werden. Die hochintelligente, mithin einseitig intelligible Sprache vermag es denn auch nicht, über einige szenische Längen hinwegzutragen. Wahrscheinlich werden nur die wahren Schwitters-Fans, die übrigens im englischsprachigen Raum weit zahlreicher sind als im deutschsprachigen, diesen Tonfall durchgehend zu schätzen wissen.

Biografie und Belletristik

In einem kurzen Nachwort gibt die Autorin Auskunft über ihre Bedenken, als sie sich anschickte, dieses Leben und Werk als Fiktion zu erzählen: „Subjekte müssen sich heutzutage ohnehin bescheiden geben, um andere in ihrer Erlebensgewissheit nicht zu stören; Autor*innen sollten sich daher nur an eigene Erfahrungen halten. Bleib bei deinen Leisten, Schusterin! (Erzähl aus deinem Schlagloch, meine Beste.) Was erwartete mich, nun, da ich arglos angefangen hatte, über einen Mann zu schreiben?“

Ihren Selbstzweifeln in Anbetracht der Frage, wie heutzutage über die Leben der anderen geschrieben werden soll, ist Ulrike Draesner jedenfalls mit Bravour begegnet. Neben Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“, das 2020 den „Deutschen Buchpreis“ erhielt, ist „Schwitters“ eines der aufregendsten und formal ambitioniertesten Bücher der letzten Zeit, die Biografie und Belletristik zusammenbringen – auch und gerade weil der Roman kompromisslos Freiräume abseits der „Erlebensgewissheit“ für sich, seine Imagination und seine Sprache reklamiert.