Ally Klein: Der Wal
Nach knapp fünfzig Seiten ist es dann so weit. Saul spricht. Und sein erster vollständiger Satz in dem Roman, der von ihm handelt, könnte fieser nicht sein: „Warum erzählst du das?“ Sein Gegenüber, eine Frau namens Q, lässt den Blick durch die einzige Wirtschaft des Kaffs wandern: „Sag mir einfach, wer du bist, Saul. Ich will dich nicht in meinem Kopf entwerfen.“ Er wird ihr diesen Gefallen nicht tun. Er wird insgesamt eher wenig tun in Ally Kleins zweitem Roman, außer den titelgebenden Wal auszuhöhlen, einen verlassenen Kunstbau, dessen Innenraum vom Zweitbesitzer gefliest und dadurch, so Saul, verschandelt, um nicht zu sagen: entweiht wurde.
Wenn so wenig passiert, passiert dieses Wenige einigermaßen oft. In Der Wal wird viel geraucht und geschwiegen, viel spaziert und gestarrt, während der Kies knirscht und der Wind heult, als wollte er dem berüchtigten Hund Konkurrenz machen, der immer „irgendwo“ bellt: „Die Stöße prallten auf ihn von vorne, rammten ihn an der linken Schulter, der rechten, schlugen auf ihn ein, schlugen aufeinander ein. Saul schloss die ausgetrockneten Augen und ließ sich vom Wind durchfegen.“ Die Außenwelt wird so zur Fläche, auf die die Ängste und Unsicherheiten von Kleins Personal projiziert werden. Ist Saul nun ein Künstler oder ein Anti-Künstler? Ist Q eine Narzisstin auf der Suche nach einem neuen Opfer, eine „Auslöscherin“, wie sie sich betitelt? Oder doch eher eine Verlorene, die Halt sucht in einer Welt, die sich ihr entzieht? Die Handlung besteht dabei vorwiegend im Wechsel der Witterungsverhältnisse. Mal regnet es, mal dämmert oder dunkelt es, während Saul seinem Lebenskunstprojekt nachgeht: „Jede Fliese hatte Ich! gerufen, ich, ich, ich, ich, Ich. Man hatte diesen Wänden ein Ich aufgedrängt, gegen ihre eigene Identität verstoßen, diese zurückhaltende, bescheidene Identität.“
Krankheit als Stil
In Kleins Prosa des Sensorischen, die „jedes Knötchen“ begutachtet, „das sich in den Muskeln eingenistet hatte“, ist Q ebenso wie Saul und dessen Zwillingsbruder, der später im Dorf auftaucht, vor allem Opfer der Umstände und Spielball körperlicher Eindrücke. Sie frieren, schwanken und grübeln – und wo sonst nicht viel passiert, wird jede Bewegung raunend existenziell, selbst die, deren Antizipation zwar länglich beschrieben wird, die dann aber doch niemand ausführt. Selbst wenn Saul in seine Stulle beißt, staunt der Erzähler über diese Mystik des Alltags, über die „große parabelartige Leerstelle“, die sich vor ihm auftut.
Aber für eine solche Slow-Mo-Literatur, die sich der Tristesse der kleinen Dinge annimmt, fehlt hier schlichtweg die Präzision, die etwa Tor Ulven an den Tag legt, ein norwegischer Schriftsteller, dessen Bücher ebenfalls bei Droschl erscheinen. „Seine Plagen“ bekäme man, sagte Ulven in einem lesenswerten Gespräch, „als Form wieder, als Kunstwerk. Das ist der wesentliche Punkt. Im wirklichen Leben ist das Leid formlos. In der guten Literatur erhält Leid eine Form.“ In Anbetracht von Kleins Sprache, die überall Tiefe und Intensität sucht und Atmosphäre über Genauigkeit stellt, gewinnt ihr Roman hingegen erst an Format, wenn man ihn als eine großangelegte Allegorie liest. Auf einem zweiten Level sind dann die dauerwüste Umgebung, die mäandernden Protagonisten und die Redundanz der Szenen Ausdruck einer Paranoia, Depression oder Dissoziation, die aber nicht nur das Personal, sondern den Text selbst heimsuchen und seinen fiebrigen Körper auslaugen. Das wäre eine Fortführung dessen, was Ally Klein 2018 in ihrem Debüt Carter gemacht hat, und lässt sich durchaus als formalen Clou betrachten, auch wenn der Roman sich das durch einen monotonen Stil des bösen Omens erkauft.
Gespenstische Nähe
In Kleins Schwärze gewinnt jedenfalls wenig an Kontur. Die Pointe, dass ja genau das die Pointe dieses Buches über Krankheit, Kunst und Sprache sei, ist irgendwann totgeritten, spätestens, wenn zum gefühlt siebzehnten Mal Unverständliches in stürmische Winde geschrien wird und Leute sich in zuverlässig strom- und heizungslosen Zimmern zu unruhigen Schläfchen betten. So bleibt etwa die Geschichte rund um Sauls Bruder im Halbdunkel stecken. Wie innig ist die geschwisterliche Beziehung? Ist Kunst ein probates Mittel zur familiären Wiederannäherung? Man weiß es nicht, aber wie zur Antwort knirscht draußen mal wieder der Kies.
Als Ghostwriter schreibt der namenlose Bruder einen Fachaufsatz über Geister, was einigermaßen lustig ist, auch wenn der Text sich insgesamt wenig bis gar keine Komik zugesteht. Über das sogenannte Feeling of Presence heißt es: „Es ist kompliziert, aber im Grunde verortet man unter anderem seinen Körper oder seine Glieder falsch, man liest sich selbst falsch. Es ist das Gehirn, das nicht zurechtkommt und das Problem mit einer Illusion löst.“ Natürlich ist das auch und zuallererst ein Selbstkommentar, eine Hilfestellung, um diesen Text lesen zu lernen.
Identität ist hier nämlich keine primär politische, sondern eine ästhetische Kategorie – und das nicht, weil gesellschaftliche Zusammenhänge ausgeblendet, gar verleugnet werden sollen. Eigentlich stellt Ally Klein die richtige Frage im richtigen Medium: Wie lässt sich im Roman die gerade so akute Frage nach Selbstbestimmung und freiheitlichen Ich-Entwürfen als eine gestalterische und eben nicht als eine plakativ politische stellen? Und wie könnte eine mögliche sprachliche Antwort darauf lauten – als und in der Literatur? Das Personal in Der Wal steht dementsprechend vor der Aufgabe, souverän zu werden, als Liebende, Arbeitende und Redende. An diesem Projekt scheitert jede Figur dann auf ihre Weise, weil sie sich selbst gewissermaßen nicht zusammenbekommt. Die Welt ist schlichtweg zu inkohärent, der Druck zu groß, die Angst zu stark. Insgesamt weiß diese an sich interessante Poetik, die Identität als Form- und Formungsfrage betrachtet, aber keine überzeugende Antwort auf die aufgeworfenen Probleme. Absatz-, ja seitenweise wird im immergleichen Duktus beschrieben, dass etwas nicht so genau zu beschreiben ist, die Körper, die Kunst, die Malaise vis-à-vis der Welt.
Rauchen und Schweigen
Ally Kleins Der Wal lässt sich durchaus in der Nachfolge Thomas Bernhards betrachten, der das Subjekt in dessen Eloquenz der Lächerlichkeit preisgab und jede Geschichte abschießen wollte, sobald sie „irgendwo hinter einem Prosahügel“ auftauchte. All diese Themen finden sich auch in Der Wal wieder, nur gehen ihnen der Witz, die Schärfe und, ja, auch die tiefe Verzweiflung ab, die der Roman eigentlich ins Zentrum stellt und doch nicht so recht zu gestalten weiß.
Zum Schluss denkt Q alias Keough, wie sie auch noch genannt wird, über das sprichwörtliche Licht am Ende eines Tunnels nach, darüber, was nach der „abyssischen Schwärze“ kommt, in der sich auch Der Wal verschanzt und verausgabt hat. Was täten sie dann? In Zeiten des zunehmenden Lichtes, in denen die Sprache womöglich wieder mehr wäre als ein Instrument der Schwarzmalerei? Keoughs Wunsch ist verständlich: „Wir sitzen und rauchen und schweigen. Und hin und wieder erzählen wir uns was.“ Auch sie erträumt sich nichts anderes als eine Atempause nach diesem knapp zweihundertseitigen Sturz.