Eva Schmidt: Die Welt gegenüber
Ob die Gestalten zusammen gehören? Ob sie sie noch erkennen wird, dort draußen auf dem zugefrorenen See, wenn die Nacht bis hereinbricht? In Eva Schmidts Geschichte „Die Störung“ mietet sich eine Frau ein abgelegenes Ferienhaus und wird von drei Personen abgelenkt, die in der Nähe unterwegs sind. Sie hatte zuhause behauptet, auf einen Kongress zu fahren und das Passwort des PCs geändert, damit ihr Mann keinen Verdacht schöpft. Sie will Ruhe: vor ihm, vor ihrer Umgebung, vielleicht auch vor sich selbst, der Ahnung, so vieles verpasst zu haben.
„Und warum machte mich das traurig? Weshalb nur?“, fragt sich denn auch gleich in der ersten Geschichte eine Frau, die auf ihrem Balkon steht, raucht und in die Wohnungen der anderen späht. Ein Vorhang vor dem Fenster hüllt die Nachbarn ein; vor ihren Augen defiliert schemenhaft ein fremdes Leben, zu dem sie keinen Zugang hat. Insgesamt hängt in Eva Schmidts Erzählband „Die Welt gegenüber“ ein Schleier vor den Blicken der Figuren, das die Sicht, den Stil eintrübt. Die Aufregung hat sich in diesen unauffälligen, aber sehr fein gearbeiteten Erzählungen längst verzogen, und Schmidt vermag es, über Alltäglichkeiten Szenen der Tristesse heraufzubeschwören, an deren Rändern das Unausgesprochene, Verdrängte, auch Bedrohliche nagt.
Die Dezenz, die Vorsicht, nicht überzutreten, weder zu viel zu sagen noch zu sehr zu stören, ist nicht nur dem Personal, sondern auch der Sprache eigen. In dem Sinne entspricht Schmidts Erzählband dem Bonmot der US-amerikanischen Schriftstellerin Meg Wolitzer, dass ein Story-Sammlung „ein ruhigeres Tier als der Roman“ sei. Ein Küchentischgespräch mit der Tochter, die nicht zuhört; ein Junge, der einen sekundenkurzen Blick ins Wohnzimmer wirft, in dem seine drogen- und alkoholabhängige Mutter schläft – es braucht hier nicht viel, damit die Autorin ihre Erzählkunst wie ein Mobile aufspannt, das „die umgekippten und die angezählten“ verbindet, wie es in einem Gedicht von Monika Rinck heißt.
Im Nomandsland der Gefühle
So hängen sie also dort, Schmidts Figuren, in der Schwebe ihrer Unglücke. Ein Immobilienmakler überlegt, den Liebhaber seiner Noch-Frau mit einer Donald-Trump-Maske zu überfallen, kann sich schlussendlich doch nur dazu durchringen, seinen Koffer mit den Eigenheim-Träumen in den Regen zu stellen. Eine pensionierte Witwe langweilt sich und gibt Geflüchteten Unterricht. Ein Befreiungsschlag gelingt in beiden Fällen nicht. In den Geschichten, die meistens zehn bis zwanzig Seiten umfassen, wird gar nicht erst der Versuch unternommen, einen Wechsel der Verhältnisse herbeizuführen. Dafür ist die Energie zu schwach, die Desillusion zu stark, vielleicht aber auch im Hintergrund die Lust zu gering, die Biographien, deren Unglück ja nicht nur aus einem privaten Malheur herrühren kann, im größeren Ganzen zu verorten – und darüber zu kontextualisieren.
Anke Stelling betreibt in ihren Erzählungen sozialrealistische „Grundlagenforschung“, wie der Titel ihres Bandes heißt. Bei ihr werden die Deklassierten in den Blick genommen und die Widersprüche der Wohlsituierten ausgestellt. Eva Schmidt steht ihr diametral gegenüber: Sie schreibt mit diesem Buch weiter an ihrer Poetik der Gestimmtheitsforschung, die sie seit ihren schriftstellerischen Anfängen verfolgt. Während gerade an anderer Stelle die Einsamkeit aus kapitalismuskritischer Perspektive betrachtet, soziologisch und technologisch eingeordnet wird, während sie dort also als politisches Problem aufgefasst wird, ist sie für Eva Schmidt zuerst (und zuletzt) eine existenzielle Bürde, ein Schicksalsschlag. Ihre Figuren, ganz egal wer sie sind und wo und wann sie leben, hängen in einer Art gesellschaftspolitischem Nomandsland fest.
„Er begriff nicht, warum das alles geschah und warum es gerade ihm geschah“, heißt es an einer Stelle. Die Figur kann darauf keine Antwort geben – ebenso wenig wie die Literatur, die sie hervorgebracht hat und sich dazu entschieden hat, ihr stilistisches Geschick an anderer Stelle einzubringen. Trotzdem rückt diese Begrenztheit, diese Starre das Personal hier und da nah an die Larmoyanz, auch wenn diese nie sentimental, eher ermattet klingt und durch Schmidts souveräne Sprache aufgefangen wird. Das Selbstmitleid wird so zur letzten ehrlichen Möglichkeit, Auskünfte über die eigene Gefühlswelt zu geben, die nicht verstanden und also nicht verändert werden kann: „Es war wohl eine Art Mitleid, das mich nicht einschlafen ließ, Mitleid mit dem jungen Paar im gegenüberliegenden Haus, mit mir selbst, mit anderen Männern und Frauen, die ihre Jugend, oft aber auch ihr ganzes Leben darauf verwendeten, auf etwas zu hoffen, das die Grenzen ihres Wesens, die Barrieren, die sie selber schufen, überstieg.“
zuerst vorgestellt in der Sendung „Lesart“ bei Deutschlandfunk Kultur