Michel Decar: Die Kobra von Kreuzberg

von Samuel Hamen
Juni 11, 2021 / 0 Kommentare

Ach, ach, seufzen bei Michel Decar selbst die Diebe. Auch sie sehnen sich nach der guten, nach der alten Zeit: „Wo waren die wahren Verbrecher geblieben, die kriminellen Giganten, die Großhirne des Eigentumsdelikts?“ Es sind Fragen, die auch Beverly Kaczmarek sich stellt: Wer will ich sein? Möchte ich das Erbe meiner Familie fortführen? In Decars zweitem Roman herrschen nur etwas andere Voraussetzungen vor: Beverlys Verwandtschaft ist kriminell. Jeder um sie herum ist ein Meisterdieb oder ein Meisterdieb a. D., und ihr bleibt wenig anderes übrig, als sich zu beweisen, um die Ehre der Familie hochzuhalten.

Während ihrer Sinnsuche trifft Beverly auf Gestalten wie den „Wetterterroristen“ Dragan Vidović, der erfundene Ausnahmezustände wie die „große Berliner Wetterkrise“ medienwirksam kuratiert, um die öffentliche Ordnung zu stören. Die Direktorin eines Museums, das Beverly später ausraubt, imaginiert wiederum Unwetter herbei, die sonst niemand sieht. Alle drehen jedenfalls ein wenig ab, während die Hauptfigur ihren Plan vorbereitet: die Quadriga, die Statue auf dem Brandenburger Tor, zu stehlen, um ihre Brüder zu beeindrucken, die meinen, die besseren Diebe zu sein und der Schwester SMS wie diese schicken: „Kurze Erinnerung, dass du bei allem, was du dir vornimmst, auf totale Art scheitern wirst.“

Das Deutschland der 2020er Jahre

Das Gemälde, das Beverly aus dem Museum klaut, um einen Geschäftspartner zufriedenzustellen, hängt sie später heimlich über das Ehebett des ermittelnden Kommissars, der zu dem Zeitpunkt längst die Hoffnung aufgegeben hat, die Diebstähle aufzuklären. Auf dem Bild mit dem Titel Am Ende der Welt ist eine apokalyptische Stadtlandschaft zu sehen: „Warum brannten auch die Schiffe? Warum brannte der Leuchtturm weit außerhalb der Bucht? Und warum regierte der Wahnsinn in den Straßen?“

Es sind Sätze über ein Gemälde, das es nicht gibt, zugleich Sätze über ein Land, das es sehr wohl gibt. Bei Decar wird vieles en passant miterzählt, eben auch über Deutschland zu Beginn der 2020er Jahre: Nazi-Schätze werden aus dem Wannsee gehoben und an Nazi-Säcke verkauft. Der Schichtleiter des Wachschutzes am Brandenburger Tor? „Typ Hermann Göring junior.“ Selbst das Wasser ist mit Nazi-Säure versetzt: „Reichenhall Medium, Stahlbrunn Still, Wolfendonner Spritz. Es war eindeutig, all diese Mineralwassermarken klangen wie Wehrmachtsgeneräle.“

Die Kobra von Kreuzberg liest sich besonders gut als Räuberpistole oder Einbruchsromanze, gepaart mit einem Schuss schelmischer Deutschland-Diagnosen. Wie schon im Debütroman Tausend deutsche Diskotheken dockt Decar den Spaß, den er ganz offensichtlich hat, dabei an keinen politischen oder sonstwie engagierten Ernst an. Im Gegensatz zur Heist-Serie Lupin, die auch von einem jungen Dieb erzählt, der sich in einer europäischen Hauptstadt durchschlägt, finden sich keine dezidierte Interventionen zu Armut und Aufstieg in Zeiten von Klassismus, Rassismus und Marktwirtschaft, obwohl das Setting und das Personal das nahelägen, diese Fragen gerade anderswo mit einer neuen Vehemenz gestellt werden und selbst das Verlagsmarketing diese Buch-der-Stunde-Lesart anpreist.

Bei Decar hingegen ist vieles leger, ohne ignorant zu sein, ein Sidekick hier, eine Sentenz dort: „Wenn aber allen alles gehören würde, sagte Dragan, dann kann man auch gar nichts mehr stehlen. So einfach wäre das. Die Frage ist doch nur, ob es dann keine Diebe gibt oder ob dann alle Diebe sind.“ Der Konsens, der von hinten die Szenen schummrig ausleuchtet, lautet: Der Kapitalismus ist der eigentliche Gegner hinter all den Konkurrenzen; er ist es, der uns vereinsamen und biestig werden lässt. Aber das ist im Roman ein Semi-Politikum, eine vage Diagnose, die zwar das Tun der Figuren mitbestimmt, zugleich aber nie in ein aktivistisches Handeln überführt wird.

Die Ehre ist gerettet

„Ach, ein Gewitter, das ist ja interessant“, bestätigt der Assistent, als die Museumsdirektorin mal wieder ein Unwetter herbeifantasiert. Er will doch nur seinen Job behalten. Und die Leserin will doch nur unterhalten werden. Diese Ambivalenz, diese Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, läuft auf den gut 200 Seiten ständig mit: Das alles bereitet Spaß, zugleich ist gerade die Tatsache, dass es Spaß bereitet, das eigentliche Problem. Lacht ruhig, aber fragt euch doch mal, was ihr stattdessen tun könntet. Gut möglich, dass sich, während sich die Diebes-Crew in ihren „titanweißen“, „delfinfarbenen“, „honiggelben“ und „mambagrünen“ Trainingsanzügen abstrampelt, ein Sturm zusammenbraut, in strahlend blauen Himmeln über Berlin und anderswo. Denn hinter den Marketing-Krisen und Kapitalismus-Aphorismen von Dragan Vidović mag – das deutet das Buch beständig an, ohne sich dadurch von seiner Easyness abbringen zu lassen – eine wahrhaftige Krise stecken, die unter anderem den Klimawandel und den Legitimitätsverlust der Staatsmacht umfasst.

Dekar gesteht sich aber nicht wirklich zu, dieser Ahnung weiter als bis zur nächsten Szene nachzugehen, die das Genre ihm auferlegt. Vielleicht ist das auch nur ehrlich: In dem Sound, in dem Format lassen sich Probleme vor allem als Gag verhandeln, als diskursive Tollerei und „Snuff-Comedy“, wie der Theaterregisseur René Pollesch seine Stücke mal genannt hat. Alles andere verlöre sich in einem anbiedernden Alarmismus, schlimmstenfalls im Auto-Tune einer Auftragsliteratur, die sich darin verausgabt, mit Worten die Wirklichkeit umzukrempeln. Ein naives Verständnis der eigenen Tätigkeit kann man Decar jedenfalls nicht vorwerfen. Er weiß sehr wohl, was er tut beziehungsweise nicht tut: „Das kam also dabei heraus, wenn man sich mit Kunst beschäftigte: Horror, Paranoia, Verblendung. Schluss damit“, sagt Beverly sich, nachdem sie das Gemälde Am Ende der Welt näher angeschaut hat. Die apokalyptische Vision wird so zu einem Gag über Kunst und Künstlertum und – „Schluss damit“ – sofort wieder in den Hintergrund geschoben, um von dort aus den Erzählraum atmosphärisch auszuleuchten.

Wieso nicht das ganze Tor?

Schließlich landen Decars Figuren in einem Nachtclubkeller, in dem sich alle wie gehabt abmühen. Der Unterwelt-Boss ist doppelzüngig, der Polizist korrupt, Beverlys Vater vertrauensblind. Das Gemälde hat Beverly zuvor auf lächerliche Art gestohlen: keine Laserschranken, kein Alarm, keine Verfolgungsjagd. Das Fenster steht auf Kipp. So nonchalant fährt Decar den Heist an die Wand – und lässt darüber eine Frage aufpoppen, auf die er bis zum Schluss keine befriedigende Antwort gibt. Wenn es hier weder um den spannungsgeladenen Diebstahl noch ums Leben und Überleben in einem eher mäßig angenehmen Deutschland geht, um was tänzelt, kichert und grübelt der Text dann herum? Um die Erkenntnis, dass Menschen in Romanen oftmals zu Karikaturen ihrer selbst werden? Um das Angebot, Klischees zu demontieren, indem sie als Trash erzählt werden? (Was Decar zugegeben sehr gut hinbekommt.)

Wie seine Protagonistin die Quadriga klaut, ist noch so eine Frage, die im Dunkeln bleibt. Klar ist, dass das Prestige gesichert und die Familie stolz ist. Daran kann auch der „Typ Hermann Göring junior“ nichts ändern, der jetzt einen Steinbogen ohne Statue bewacht. Dabei ist die Quadriga – die nicht geklaute in Berlin genauso wie die geklaute im Roman – eine Kopie. Sie wird ersetzt werden. Die gute, alte deutsche Hoheit bleibt unangetastet. Alles beim Alten, alles in Ordnung, nur ein paar Außenseiterinnen haben Spaß gehabt und ein paar Spießer werden verärgert sein. Wahrscheinlich hätten alle Beteiligten größer, auch waghalsiger denken müssen, damit der Coup vollends gelingt – und gleich das ganze Brandenburger Tor klauen sollen.