Puk Qvortrup: In einen Stern
Als ein lädiertes Wir liegt die Familie zu Beginn von „In einen Stern“ auf dem Krankenhausbett, umgeben von Piepstönen, besorgten Blicken und einem Unglück, von dem sie mit dem Leichtsinn der Unbescholtenen dachten, dass es sie nie heimsuchen würde: „Wir liegen zu dritt im Bett. Einer ist noch nicht geboren, einer ist tot, ich aber bin am Leben. Wir teilen ein Laken. Jemand hat elektrische Teelichter um uns herum aufgestellt. An unserem Kopfteil sitzt ein Elternpaar. Sie sind grau geworden im Laufe der Nacht. Sie sagt etwas, weint. Dann sind sie nicht mehr da.“ Puk ist im siebten Monat schwanger, Mutter des zweijährigen Elmer und seit wenigen Minuten Witwe. Ihr Mann, der 27-jährige Lasse, ist bei einem Halbmarathon zusammengebrochen und an einem Herzstillstand gestorben. Sein Lebensende markiert für Puk den Beginn einer neuen Zeit, die sich mal wie eine Tortur und ein Kampf, dann wieder wie ein brüchiger Alltag anfühlt. Alles wird neu kalibriert, Nähe und Distanz, Liebe und Fürsorge, Gegenwart und Zukunft.
Witwe, „Mama“, Journalistin
Sie stört sich daran, dass Krankenschwestern ihre Hand tätscheln und dass die Trauergäste sie am Arm berühren, dann ist sie wieder empört darüber, dass bestimmte Freunde sich nicht regelmäßig bei ihr melden. Es gibt sie nicht mehr, die heile Balance. Die Welt ist für die schwerst verwundete Puk mal zu zudringlich, mal viel zu fern. Weder als „perfekte Witwe“ noch als „toughe Supermama“ fühlt sie sich ihr gewachsen. „Wie konnte ich so unglücklich sein, wenn Kaj gerade zur Welt gekommen war? Wie konnte ich so glücklich sein, wenn Lasse gerade gestorben war?“
Trauer sei „eine unzureichende Sprache“, sagt sich Puk einmal. Dieses Defizit versucht die Autorin gar nicht erst wettzumachen. „In einen Stern“ ist weder das Endprodukt einer beflissenen Trauerarbeit noch das Dokument einer sogenannten starken Frau, die sich zwischen Mutterschaft und einer Ausbildung zur Journalistin durchkämpft. Diese Programmlosigkeit ist eine der Stärken von Qvortrups erster Veröffentlichung: Der Text will keine Wertschöpfung betreiben, will aus dem einschneidenden Verlust keine Story kreieren, sei sie noch so emanzipativ und zeitgenössisch.
Vom Sinnlosen erzählen
Als sich Lasses Eltern an die Presse wenden und den Tod ihres Sohnes boulevardesk aufplustern, fühlt sich die Erzählerin wie vor den Kopf gestoßen: „Hitze schoss mir in die Wangen, während ich die Artikel las. Helle hatte von Lasse erzählt, von der Tragödie, sie hatte von Elmer erzählt und von mir, Puk hieß ich, heiße ich, seine schwangere Frau, die zu Hause in der Küche stand und alles vorbereitete für ‚Klein-Elmers‘ Geburtstagsfeier. Die Geschichte war wie geschaffen, um sie mit Violinen zu unterlegen. Violinen gab es reichlich, und ich war weder gefragt noch gehört worden. Ich war außer mir.“
So wird auch eine der oft zitierten Stärken von Literatur herausgefordert: dass sie es angeblich erlaube, Erfahrungen von Willkür einen Sinn zu verleihen. In „In einen Stern“ sind Puks Gedanken hingegen in Schleifen der Sinnlosigkeit gefangen. „Wie glücklich ich sein könnte, wäre ich nicht so unglücklich“, heißt es an einer Stelle in schmerzlichster Vertracktheit. Das ist, sagt uns dieses Buch und erkennt damit auch die eigenen Grenzen an, das ist das Quäntchen Sinn, das Fitzel an Stringenz, das übrig geblieben ist.
Ein Wir der Leserschaft
Was Puk Qvortrups Buch tatsächlich sternengleich im Grau der Trauertexte und Totengesänge schimmern lässt, ist die Verweigerung, den Verlust zu irgendetwas zu stilisieren. Es gibt keinen Trost und kein Drama, keine Erkenntnis, keine Geschichte und keine Wundheilung, nur ein Leben, das eben auch Augenblicke des Glücks bereithält, noch und wieder, wie am Ende des Buches, als sich ein neues Wir zusammensetzt: „Ich schließe die Augen, die Tränen kommen plötzlich, wir haben viel zu viel zu verlieren. Die Uhr zeigt sechs, bald wachen die beiden großen Brüder oben in ihrem Stockbett auf, gleich kommen sie die Treppe heruntergepoltert, wir sind hier. Wir sind hier.“
Aus dem Wir der Familie wird auch ein Wir der Leserschaft, ohne dass diese Lese-Erfahrung via Voyeurismus, Selbstmitleid oder Sentimentalität erkauft wird. Abseits der Koketterie, mit der so viele Autofiktionen das Private als Bekenntnis zur Schau tragen, spricht sich hier ein Mensch aus, der einen Verlust erlitten hat. Und dieses Sprechen am Rande der Schwärze kommt eben nicht als Trauerkerzensprüchlein oder Trauerarbeitsfloskel daher, sondern als ungeheuer starke Literatur.