Dennis Cooper: Die Schlampen
Irgendwann wissen selbst die Forum-User, die bisher in „dieser bizarren und beunruhigenden Geschichte“ den Überblick hatten, nicht mehr weiter. Ist Brad niemand anderes als Thad? Und ist er tot? Beziehungsweise: Ist der Junge, der sich als Brad ausgibt, tot, auch wenn er eigentlich Thad ist? „Die Freaks kriechen aus ihren Löchern“, heißt es im Beitrag eines Users namens „sammyd“: „Ich bin süchtig nach dieser endlosen Geschichte, weil sie wie ein großartiger Krimi mit vielen Sexszenen ist. Ich will wissen, wie es ausgeht. Wer sagt die Wahrheit?“
In Dennis Coopers Roman „Die Schlampen“, der 2004 im englischen Original erschien, wird die Handlung unter anderem anhand solcher Forum-Beiträge erzählt. Hinzu kommen Chat-Protokolle sowie Rezensionen, die Freier nach Sextreffen auf einer Escort-Seite online stellen. Auf dem gesicherten Boden der Tatsachen befindet sich niemand, weder die Leser noch die Figuren. Alles ist perspektivisch gebrochen, absichtlich verschattet oder strategisch überbelichtet. Im Zentrum steht der Prostituierte Brad, ein Junge, der mal auf 14, mal auf 16 Jahre geschätzt wird, laut Führerschein aber 18 ist. Angeblich will er seine letzte Fantasie Realität werden lassen: dass jemand ihn während des Geschlechtsverkehrs tötet.
Allmählich wird er zur Zielscheibe, zum Wunschbild und Fixpunkt einer Community von schwulen Männern, die sich in der Anonymität des frühen Netzes enthemmen, während sie ihre Begierden auf ihn ausrichten: „Er hat sich als süßen Twink und Bottom mit hungrigem Arsch beschrieben, der darauf steht, hart benützt und missbraucht zu werden. Ich sagte ihm, dass ich ein S&M-Top bin, der auf Bondage steht, und er hat mir einen Preis von $ 800 für den Abend genannt.“
Keine Legitimierung von sexualisierter Gewalt
Das Buch gliedert sich ein in das Werk Dennis Coopers, in dessen Gay Fictions es oft um das Wechselspiel von Sex, Obsession und Gewalt geht. Explizite Beschreibungen samt Vergewaltigungen finden sich auch in diesem Fall. Was „Die Schlampen“ davor bewahrt, ein ordinärer, trivial pornographischer Text zu sein, der übergriffige Szenen als enttabuisierende oder kokett amoralische Prosa verkauft, das ist die Trostlosigkeit und Verlorenheit, die von den Postings ausgeht. Am Anfang der Begierden, die zu Lügen und übelster körperlicher Misshandlung führen, mag einmal so etwas wie aufrichtige Zuneigung gestanden haben. Aber Liebe – ein Wort, das auffällig oft fällt – ist zum willkürlichen Füllwort für alles Mögliche geworden, für Geilheit, Selbstaufgabe und Exzess, für Begierde, Besessenheit und Intensität.
Von einer Idealisierung von Pädophilie, Gaslighting oder Prostitution ist Coopers „Die Schlampen“ weit entfernt. Auf stille, abgekämpfte Weise trägt der Roman einen Restbestand an Menschenliebe und Humanismus mit sich herum, nur um beides an seine kaputten Figuren zu verlieren. Zum Schluss gelangen sie alle an ein Ende, als Vereinsamte, als Verlorene in ihren brutalen Vorstellungswelten und Ermattete von der „Brad-Saga“, die – gerade weil sie so unerbittlich gut geschrieben ist – nicht zur Wahrheit führen kann, wie „sammyd“ es sich erhofft hat.