Ronja von Rönne: Wir kommen

von Samuel Hamen
Juni 19, 2016 / 0 Kommentare

Als Ronja von Rönne 2015 bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt teilnimmt, lässt sie die Hauptfigur in ihrer Erzählung nach Karlsruhe reisen:

„Ich bin geschäftlich in Karlsruhe. Die Zeitungen schreiben, ich sei Teil der Generation Produktiv, und da möchte ich nicht negativ auffallen. Also fahre ich einmal im Monat mit dem Zug in irgendeine deutsche Stadt, trinke Weißweinschorlen in Bordbistros, stelle den Handywecker und blättere hastig durch die Welt am Sonntag.“ (Der Text ist hier verfügbar.)

Karlsruhe ist nicht wirklich der Nabel der Welt, weist sich weder durch pochende Urbanität noch durch erzählenswerten Kleinstprovinzialismus aus. Karlsruhe ist irgendetwas Blasses zwischen Berlin und Bautzen. Wieso also lässt von Rönne ihre Protagonistin gerade dort auflaufen?

Leider muss an dieser Stelle der eh schon hyperpräsente Christian Kracht herbeizitiert werden. 1995 hatte Kracht seinen Ich-Erzähler in „Faserland“ nämlich fast nach Karlsruhe geschickt. Fast, weil der Held auf dem Weg dorthin aus dem IC flieht, um einem leidigen Bekannten zu entkommen – stattdessen landet er im bräsigen Heidelberg:

„Er guckt aus seinen traurigen Wanderpredigeraugen zu mir herüber, zieht ein bißchen die Brauen zusammen und kommt dann an meinen Tisch. Ich frage ihn, wohin er denn fährt, und da sagt er allen Ernstes, er fahre zu einem Trendkongreß nach Karlsruhe. Eigentlich habe er ja mit dem Auto fahren wollen, aber das könne er irgendwie nicht mehr reinen Gewissens tun, Autofahren, meine ich. Ob ich auch nach Karlsruhe fahren würde? Vor mir auf dem Tisch liegt so ein Faltblatt der Bundesbahn, und ich schaue schnell drauf, und die nächste Station ist Heidelberg, und da ich mir nichts Schlimmeres auf der ganzen Welt vorstellen kann, als mit Matthias Horx bis Karlsruhe über den dortigen Trendkongreß zu plaudern, sage ich schnell, ich würde nur bis Heidelberg fahren.“

Als eine Art Fortschreibung dieser bundesrepublikanischen Stolperpartie erreicht dann zwei Jahrzehnte später von Rönnes Heldin Karlsruhe, um dort grandios abgeklärt zugrunde zu gehen. Vielleicht hilft dieser erstmal etwas abwegige Standortverlauf, um sich von Rönnes Erstling „Wir kommen“ als einem literarischen Text anzunähern. Bestenfalls hilft diese Verortung, den Roman einzuordnen und zu bewerten, ohne für die von Rönne (leider) allzu gängigen Vokabeln zu nutzen wie „erkennbar weiblich“, „Schmollmund“, „It-Girl“ und „zugeknöpfte Bluse“.

Es ist nämlich just der Ton von „Wir kommen“, die Mundverrenkung zwischen Gähnen, Schreien und Jammern, der den Roman u. a. an „Faserland“ bindet. Hier wie da reisen junge Menschen, übermüdet vom eigenen Da-Sein, durch Deutschland, und dabei lenken sie sich ab mit Drogen, Partys, Sex und dem Erzählen über all dies. Bei „Wir kommen“ gibt man so gewichtige Bewertungskategorien wie Plotspannung, Charakterzeichnung oder Gesellschaftspanoplie nun schon nach den ersten Seiten bereitwillig preis. Dort wimmelt es vor Absätzen wie diesem: „Seitdem ist mein Telefon ruhig geblieben. Ich sitze in meiner Wohnung. Wenn ich rausgucke, ist da Stadt. Gerade ist eine Uhrzeit. Der Himmel ist schmutzig von Vogelschwärmen.“

Unter diesem schmutzigen Himmel folgen wir der Protagonistin Nora, die in einer offenen Viererbeziehung mit ihrem Ex Karl, dessen neuer Freundin Leonie und dem gemeinsamen Freund Jonas lebt. Alle arbeiten sie in der Medienbranche, Karl als Sachbuchautor, Nora als halbprominente TV-Moderatorin. So richtig passieren tut in „Wir kommen“ aber nichts. Dieser Dürftigkeit des Plots steht die Bedürftigkeit der Figuren entgegen, die dann auch die eigentliche, wenn man das noch so nennen kann: Handlung darstellt. Alle Figuren, insbesondere Nora, wollen von allen Emotionalitäten ein bisschen was: ein wenig Streit, ein paar Brandlöcher in der Matratze, ein wenig Versöhnung hier und dort noch ein allerletztes Mal das Gefühl jugendlicher Schwerelosigkeit. Dass jeder dieser Zustände notwendigerweise unzureichend ist, dass ein Mehr davon zu anstrengend, ein Weniger davon furchteinflößend ist – das wissen die Figuren freilich von Beginn an. Aber irgendwie müssen die Figuren bzw. der Roman bzw. die Autorin ja voranschreiten – schließlich heißt das Schreibprojekt ja „Wir kommen“.

Träger dieser fortschreitenden Stagnation ist Noras egomanische Stimme, der wir als Leser auf 200 Seiten zu folgen haben. Als therapeutische Maßnahme soll Nora nämlich tagebuchähnliche Notizen führen – und das tut sie auch, sehr eifrig und hilfesuchend. Und dieses hoffnungsfroh falsche Unternehmen ist nur allzu verständlich in der Zeit, in der wir leben. In seinem fantastischen Essay reality hunger schreibt David Shields sehr richtig: „Wie jemand über sich selbst oder über seine fiktionalen Protagonisten als nicht krank schreiben kann, ist mir schleierhaft. Wir leben in einer Welt und sind Geschöpfe einer Kultur, die immer mehr Heilmittel entwickelt, weil es immer mehr Krankheiten gibt.“

Folgerichtig erzählt Nora immer wieder von ihren nächtlichen Panikattacken, zermürbenden Eifersuchtsanfällen und ständigen Infragestellungen, von wahllosen Beobachtungsflashs und merkwürdig heiteren Gefühlen der Unzulänglichkeit. Irgendwann reist unsere Liebes- und Seelenkoalition dann mit Leonies Tochter, Emma-Lou, „auf unbestimmte Zeit ans Meer […], weil das dramatischer und mehr nach Flucht klingt als für eine ‚Woche‘.“ Im Strandhaus passiert sehr wenig: Nora schwimmt zu einer Boje, Emma-Lou sammelt Muscheln, Karl und Leonie meditieren. Zwischen diese Jetzt-Zeit sind Rückblenden geschaltet, in denen Noras Kindheitsfreundin Maja skizziert wird. Sie ist die einzige Figur in diesem in lethargischem Graublau gestrichenen Buch, die hitzköpfig und herrisch durch die Romanwelt irrt. Bezeichnenderweise wird sich ihrer nur erinnert, sie ist und bleibt eine Abwesende.

Aus all diesen Notaten spricht Noras fabelhafter wie naiver Wunsch, Rettung zu erlangen durch ihre Aufschreiberei. Hinter dieser Bemühung spürt man eine Autorin, die ähnlich ratlos ist wie ihre Hauptfigur. Ja, wie soll ich denn heute schreiben? Soll ich die Ironiespirale der letzten Jahrzehnte weiter hochschrauben? Oder so schreiben, dass ich zu einer angeblichen neuen Authentizität gelange, wie es die New-Sincerity-Bewegung in den USA propagiert? Nichts von alledem wird in „Wir kommen“ umgesetzt, der Roman ist vielmehr das Dokument unserer zeittypischen, auch poetologischen Utopielosigkeit. Ganz ähnlich ist übrigens auch der Erstling von Janko Marklein strukturiert – bei ihm fällt selbst die schriftstellerische Fabulierlust und Lügenkunst dieser Art von Zukunftsverdruss zum Opfer.

Einem Teil des Texts kommt gerade dies zugute. In jenen Episoden über das Strandhausleben hält sich die Erzählstimme nämlich mit nichts anderem auf als dem Jetzt und seinem Personal. Aus dem Häuschen am Meer und dem Buch darüber glimmert und glänzt dann nur eins: umfassende Präsenz, und sei sie noch so dröge, ausgehöhlt oder fahl. In dem ihr notwendigen Lapidargestus schreibt Nora hierzu bloß auf: „Im Strandhaus war wieder Gegenwart.“ In diesen Passagen schimmert dieser Erstling wie Dunst am städtischen Horizont: unbelangbar schön. Er zeigt auf, wie Literatur eine Stimmung zuerst macht, um sie dann geschickt auszuschlachten.

Demgegenüber wirken die Erzählschübe über Maja allerdings wie Promoclips, die damit werben, dass von Rönne auch das Schreiben über Trauma, Verlust und Vergangenheitsbewältigung beherrscht. Das misslingt ihr jedoch grundsätzlich. Erstens, weil von Rönne schlechterdings nicht erzählen kann, ihre Kindheits-Memos wirken wie aus einem Näh- oder Zettelkästchen herausgezerrt. Sie sind nicht viel mehr als programmatisch öde Rückblenden, um so etwas wie psychologische Kohärenz zwischen der damaligen und der jetzigen Nora herzustellen. Zweitens, weil die Figur der Maja auf merkwürdig kopistische Weise an Isa aus Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ und „Bilder deiner großen Liebe“ erinnert. Gerade im Abgleich wird dann sehr schnell sehr klar, dass Herrndorf insgesamt der geschicktere und klügere Erzähler ist.

Als eine Art Schneekugel zeitgeistiger Zustände können Teile von „Wir kommen“ trotzdem überzeugen. Wie sich ein Leben in diesem Mentalitätsreservoir des beginnenden 21. Jahrhunderts anfühlt, umschrieb der Lyriker Ron Winkler bereits 2007 in seinem nur sieben Verse umfassenden Gedicht „Ansichtskarte von einer See“:

„wir badeten schräg in der Zeitform des Tauchens
bis die Städte ihre Wirkung verloren. wenigstens scheinbar
stauten wir Küsten in unserem Staunen. und Vorschläge
zu ihrer Umgehung. manchmal schien die Sonne
alles zu sein. dann wieder verrohten die Dinge
in ihren Substantiven. ansonsten ging es uns
eigentlich irgendwie.“