Nora Wagener: Larven

von Samuel Hamen
Dezember 6, 2016 / 0 Kommentare

Nora Wageners Texte schrumpfen vor sich hin. 2011 hat die Autorin aus Luxemburg mit dem Roman „Menschenliebe und Vogel, schrei“ ihr literarisches Debüt vorgelegt; es folgten 2015 das Theaterstück „Visions“ sowie der Erzählband „E. Galaxien“, der drei Erzählungen versammelte. Und vor wenigen Wochen erschienen von Wagener Gedichte auf Luxemburgisch in den neuaufgelegten „Les Cahiers luxembourgeois“. In diese Schrumpfkur passt schließlich die neueste Veröffentlichung der 1989 geborenen Schriftstellerin.

Sie trägt den Titel „Larven“, umfasst 154 Seiten und vereint diesmal sechzehn Texte, die unter „Kurze Geschichten“ rubriziert sind – wobei die Texte von mindestens fünf bis maximal elf Seiten wohl treffender als Kürzestgeschichten zu bezeichnen wären. An der Oberfläche passiert in diesen Prosa-Etüden erstmal sehr wenig: In „Schassdomm“ besucht ein junges Pärchen an einem Samstagnachmittag die „Stader Groussgaass“ in Luxemburg-Stadt und endet vor lauter Kauf- und Menschenverdruss in einem Café. Dort trinken sie Kaffee. In „Das Letzte über Frieda“ besucht die eine Schwester die andere Schwester in deren WG. Dort trinken sie Tee. Dann geht die eine Schwester wieder. In „Kleiner Brand“ robbt die Protagonistin durch die Wohnung und schaut zur Decke hoch, zwischendurch hält sie ein Buch in Händen.

Es wären schlechte Geschichten, wenn das alles wäre. Aber in „Larven“ sind Handlung und episodischer Verlauf wenig mehr als das Rudiment, von dem aus Wagener den eigentlichen literarischen Vorstoß wagt: nämlich durch eine so schräge wie präzise Sprache eine Stimmung hervorzubringen. Hierfür entwirft die Autorin Figuren, die durchweg porös und angreifbar sind – dementsprechend ist ihnen die Welt dort draußen zumeist Bedrängnis und Zumutung. In „Schassdomm“ heißt es: „Überhaupt bin ich heute, und an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen, gegen gar nichts gewappnet.“

Aber gerade dieses Einfallen von Realität befeuert die Imagination und Denkweisen der Figuren, die aus ihrer Verletzbarkeit keinen Hehl, sondern einen Trumpf machen. In „Dann hättest du auch Larven“ notiert die Protagonistin tagebuchartig den letzten Besuch bei ihrem sterbenden Vater. In „Vergessen ist nirgends“ reist die Ich-Erzählerin von Luxemburg nach Berlin, um Trost zu suchen, gerade erst hat sich ihr Ex in den Tod gestürzt. Und in „Bis dahin, bleib golden“ schreibt eine Frau ihrem ehemaligen Freund einen Brief und gleicht die heutige Einsamkeit mit der damaligen Zweisamkeit ab. Eine Aufarbeitung oder Versöhnung der Kaputtheit gelingt in den kurzen Stücken freilich nicht – aber immerhin vermag man dem Ganzen so etwas wie eine melancholische Erhabenheit abzutrotzen.

In der bereits erwähnten Erzählung „Kleiner Brand“ sagt Lola an einer Stelle zu sich selbst: „Sie wird das Buch lesen müssen, wenn sie wieder unfroh ist. Jetzt machen die Worte keinen Spaß.“ Denn erst das Unglück ist aufschreibwürdig. Und erst im Niedergang und Fall lohnt es sich, Sprache zu bemühen. (Immer mal wieder möchte man dieses exzellent dekadenten Seiten Hölderlins Gedanken „Man kann auch in die Höhe fallen“ entgegenschreien.) Immerhin: Durch den kunstvollen Einsatz der Sprache lässt sich bestenfalls ein Fitzelchen Halt und Geborgenheit erlangen. In der Erzählung „Dies ganze Putzen“, die uns monologisch eine Therapiesitzung näherbringt, heißt es hierzu analog: „Aber das Glück, das bedarf eben keiner Worte.“

Von Lola über Rieke hin zu Frieda, Leonce und Lena: Wageners (zumeist weibliches) Personal erinnert an jene Figuren, mit denen der deutsche Autor Wilhelm Genazino seit Jahrzehnten seine Romane ausstattet. Bei letzterem bewohnen zu Tode betrübte Angestellte mit mediokren Urbanbiographien die Mietshäuser der Textwelten. Sie sind weder Verlierer noch Gewinner der schönen neuen Jobwelt, sondern irgendetwas Faulig-Kauziges dazwischen. Bei ersterer scheinen die Arbeits-, Sinn- und Lustkrisen unserer Zeit nun gar eine Generation nach vorne gewandert zu sein. In „Larven“ sind es junge Arbeitende und Studierende, die nicht zu sich finden und durch ihre Umgebungen stolpern und strolchen. In „Bloß ein Alien“ besucht die Studentin Rieke eine Verkleidungsparty und knutscht – als Gipfel der Selbstentfremdung – mit einem Typen, der sich als Außerirdischer verkleidet hat. Folgerichtig endet die Erzählung auch nicht mit einem Kuss, sondern mit einem Kotzschwall.

Dementsprechend fehlt es dem Band, der bei „Hydre Éditions“ erschienen ist, durchgängig an utopischem Potential. Das mag den einen Leser aufgrund der Bildsicherheit und stilistisch beeindruckenden Einfühlsamkeit dieser Prosa nicht weiter kümmern. Wer anders mag diese Ausrichtung wiederum als konzeptuelle Lücke ankreiden. Denn Wageners Texte weigern sich stur, einen anderen als den melancholischen Zustand zu denken, eine zusätzliche als die lethargische Lebensoption aufzuzeigen.

Stattdessen bezieht diese Prosa ihre situative sowie sprachliche Prägnanz aus einer so gekonnten wie altbekannten Stilattitüde, die wir seit Wageners Erstling kennen und schätzen. Die träge Konstatierung unserer seelischen Unzulänglichkeiten geht in nahezu allen Kurzgeschichten einher mit der Verunmöglichung einer kühnen Wendung hin zu neuen, besseren, anderen Ufern. Mich hat dieses letztlich gefühlsmorbide Verharren in der Gefälligkeit der eigenen Endzeit-Emotionen und Verletzbarkeiten unruhig und unzufrieden zurückgelassen. Es ist Stimmungsfatalismus in Bestform. Und damit wiederum ist „Larven“ das literarische Äquivalent unserer Zeit, die es sich doch recht gemütlich gemacht hat in ihrer spätdekadenten Willfährigkeit.