Charles Meder: Aname

von Samuel Hamen
März 10, 2017 / 0 Kommentare

Spät, ganz am Ende der Novelle „Aname“, werden in dem abgelegenen Holzkabuff irgendwo in der postkartig erhabenen Wildnis Kanadas die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ von Fjodor Dostojewski gefunden. Wieso auch nicht? Nach fast 190 Seiten durchkonstruierter Details wundert man sich kaum mehr über russische Klassiker in verlassenen Blockhütten. Als die Protagonistin Jule den Kurzroman dort entdeckt, fühlt sie sich an ihre Schulzeit, ihre Leseerlebnisse und die ersten Sätze der „Aufzeichnungen“ erinnert: „Ich bin ein kranker Mensch. Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich.“

Wäre Jule uns gegenüber so zuvorkommend gewesen, sich auch des übernächsten Satzes aus Dostojewskis pathologischer Etüde zu entsinnen – er hätte geholfen, die durchgehend fragwürdige Handlung von „Aname“ aufzuklären. Der fünfte Satz daraus lautet: „Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist.“ Dass nämlich etwas mit Jule Trochowski nicht stimmt, das wird gleich auf der ersten Seite mitgeteilt. Wie jedes voll ausgebildete Exemplar der Gattung Novelle besitzt „Aname“ eine Rahmenhandlung, die vor die Hauptgeschichte geschaltet ist und diese ankündigt beziehungsweise kommentiert.

In diesem Fall berichtet ein Arzt des Instituts für Forensische Psychiatrie in Berlin von der „Akte 345B/2012 – Bergmann-Trochowski“. Just dieses Dossier stellt dann die eigentliche Handlung dar. Abwechselnd berichten die Architekturstudentin Jule und ihr älterer Bruder Thilo, ein App-Designer, davon, wie ihre Mutter, Eva Bergmann, kürzlich und unerklärlicherweise in eine Art Wachkoma gefallen ist. Die hibbelige Jule kümmert sich mit unnachgiebigem und forderndem Optimismus um ihre „Mutti“ und besucht sie täglich im Krankenhaus am Berliner Wannsee; Thilo hingegen wirkt in seinen Notaten unwirsch und kaum der Empathie fähig. Ihn interessieren Liebesabenteuer, seine App-Programme und möglichst geruhsamer Schlaf.

Indes bricht sich beim Leser mehr und mehr Unbehagen Bahn. Die doppelperspektivisch an uns herangetragenen Episoden verunschärfen sich. Wer spricht hier die Wahrheit? Die emotional überengagierte Jule, die sich mit der Vergangenheit ihrer Mutter beschäftigt, um dem Grund für deren Leiden auf die Spur zu kommen? Oder der rational abgebrühte Thilo, dessen schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter aufgedeckt wird? Zudem wird im Verlauf der Handlung die dissoziative Identitätsstörung Jules auch stilistisch markiert. In ihren eigenen Ich-Berichten tritt plötzlich eine zweite Jule auf, die sich nicht fügen möchte. Diese Persönlichkeitsspaltung ist (wie die gesamte Handlung) sprachlich letztlich konventionell umgesetzt, trägt aber gerade so über die knapp zweihundert Seiten. Insgesamt gelingt es „Aname“ auf kluge Weise, die Labilität von Identitätsentwürfen vorzuführen. Keiner der Figuren gelingt es, Ordnung in das eigene Leben zu bringen, weder Thilo mit seinen Apps noch Jule mit ihrer Architektur oder der Mutter, die als Heilpädagogin arbeitete.

Bei ihren Recherchen stößt Jule auf einen ehemaligen Liebhaber ihrer Mutter, den diese am Tag ihres Krankheitsausbruchs in Kanada angerufen hatte. Jule reist ihm mit einem Koffer voller deliriendurchsetzter Fragen hinterher, um sich vor Ort von dem für einen Eremiten erstaunlich plapprigen Mann erzählen zu lassen, wieso er die Beziehung zu Jules Mutter beenden musste. Währenddessen stirbt „Mutti“ zu Hause in Berlin, was Jules psychotische Schübe nach ihrer Rückkehr noch verstärkt, sie aber nicht davon abhält, ein weiteres Mal nach Kanada zu reisen, gemeinsam mit Finn, der der Sohn des zwischenzeitlich verschwundenen Trappers ist und der als Schriftsteller einen biographischen Roman über seinen Vater schreiben möchte, der, wieso auch nicht, auch noch Komponist ist.

Nun gut, vieles bleibt in dieser Novelle von Charles Meder bis zuletzt rätselhaft, und das ist ja durchaus erwünscht. Der narrative Kniff des unzuverlässigen Erzählens legitimiert halt alle Wendungen in der Handlung, auch die abstrusen und kantigen, und alle Verhaltensweisen der Figuren, auch die kaum nachvollziehbaren. Schließlich entspringt ja alles dem fabelhaften Wahnsinn der Erzählenden.

Was Meders Novelle dennoch zu einem eindrücklichen Erstling in der hiesigen Literaturproduktion macht, ist dessen so produktiver wie kritischer Umgang mit der Konstruiertheit allen Erzählens. (Nicht umsonst wird ständig über Bücher geredet und üben viele der Figuren kreative Berufe aus.) In Zeiten, in denen sich die Leser gerne den biographischen, naturalistischen Schilderungen von vermeintlich echter Lebenswirklichkeit hingeben, tut es gut und not, einer Erzählung zu begegnen, welche die Gemachtheit, Künstlichkeit und oftmals manipulative Absicht von Literatur nicht verleugnet, sondern selbstbewusst zum Thema macht.