Über Literaturbetriebswärme

von Samuel Hamen
April 24, 2017 / 1 Kommentar

Feuilleton vs. Blog, Etablierte vs. Randständige, Beruf vs. Hobby, Profi vs. Laie. Es ist ein altes Thema, ja, ich weiß, aber es gibt neue Anlässe, um darüber zu sprechen. (Und überhaupt: Gulasch soll ja auch besser schmecken, je länger man es köcheln lässt.) Daher will ich hier einige Gedanken zur personalen und strukturellen Aufstellung der gegenwärtigen Literaturkritik zu Papier bringen. Wer über dieses Thema schreibt, kommt an einer Personalie nicht vorbei: Denis Scheck.

Bis 2016 war der 1964 geborene Journalist Redakteur beim „Deutschlandfunk“, seit 2003 ist er Moderator von „Druckfrisch“ (ARD), seit 2014 von „Lesenswert“ (SWR), seit Herbst 2016 von „Kunscht!“ (SWR), seit Frühling diesen Jahres erstellt er im Auftrag von Die Welt, WDR und SWR „Schecks Kanon“. (Beim SPIEGEL waren es vor kurzem immerhin sechs Redakteure, die die „50 wichtigsten Romane unserer Zeit“ zusammenstellten.)

Auf die (zugegeben: bierschale) Frage im Gespräch mit kress.de, ob er nun der neue Reich-Ranicki sei, antwortet Scheck so spitzbübisch wie ausweichend: „Gefährlich lebt, wer Frequenz mit Präsenz verwechselt“. Nun, zur Frequenz: „Druckfrisch“ erscheint zehn Mal im Jahr, „Kunscht!“ wöchentlich, in 100 Folgen wird seit Anfang April der Schecksche Kanon weitergeführt, „Lesenswert“ erscheint zweiwöchentlich, das an das Sendungskonzept angebundene und von Scheck geleitete „lesenswert quartett“ vier Mal im Jahr. (Fiese Hochrechnung: An fast jedem zweiten Tag des Jahres kann man sich Scheck auf irgendeinem Kanal zu Gemüte ziehen.) Zur Präsenz: Mit anpreisenden Sprüchen steht Scheck auf gefühlt jeder dritten Buchrückenseite im Bahnhofskiosk, er lesetourt mit einem Ableger seiner Buchwegwerf-Masche durch die Lande, er ist Gegenstand von Polemiken anderer Medien, die ihm – unabhängig davon, ob sie angebracht sind oder nicht – Aufmerksamkeit bescheren. Kurzum: Denis Scheck ist wie ein Olivenhain in der Toskana: nicht wegzudenken aus der (Literatur-)Landschaft.

Auf der einen Seite also einzigartige personale Hyperpräsenz. Und auf der anderen Seite? Hypopräsenz bis in die Kommastelle hinein: Die „Topliste der deutschen Buchblogger“ zählt zurzeit 1286 Einträge, der „beste“ Blog hat einen Wert von 0,89, mein Blog erreicht 0,28 (Rang 1131), viele stagnieren bei 0,00. Freilich: Die Topliste ist nur bedingt aussagekräftig. Viele Blogs bedienen andere Genres als die sogenannte schöne Literatur oder erheben gar nicht erst den Anspruch, Belletristik ernsthaft kritisieren zu wollen. Dennoch würde ich grob schätzen, dass 100 bis 150 der aufgeführten Blogs neueste schöne Literatur besprechen. Selbst bei stärkster Frequenz ist deren Präsenz einigermaßen bis verschwindend gering. Ganz ehrlich: Wer schielt nicht alle paar Tage auf die Besucherstatistiken des eigenen Blogs, um sich über 3, 13 oder 275 neue Zugriffe zu freuen?

Das feuilletonistische Naserümpfen, Augenrollen und Haaresträuben bezüglich des Blogs als Medium der Literaturkritik ist altbekannt. (Man beachte beispielsweise diesen Artikel von Sandra Kegel und die Spitzzüngigkeit, mit der dort von „Bloggern“ und dem „Internet“ die Rede ist.) Die Gegenmaßnahmen seitens der Blogger hingegen sind neu: 2016 hat das Kollektiv von dasdebuet.com erstmals den „Das Debüt – Bloggerpreis für Literatur“ ausgeschrieben und vergeben, 2017 soll der Preis erneut verliehen werden. In der Ausschreibung heißt es apologetisch: „Wir sind Blogger und wollen einen Preis ausloben, der ausschließlich von Bloggern gewählt wird. Jeder Umgang mit Literatur ist ein Umgang mit Literatur.“ Gewonnen hat übrigens „Nachts ist es leise in Teheran“ von Shida Bazyar, ein Roman, der auch von der „richtigen“ Kritik gelobt wurde.

Einen Zwitterweg zwischen F und B schlägt ein anderes Literaturpreisprojekt ein. Der „Blogbuster-Preis“ wird dieses Jahr zum ersten Mal verliehen. Manuskripte konnten bei ausgewählten Bloggern eingereicht werden, diese suchten ihre Favoriten aus, die wiederum zu einer Shortlist zusammengeschrumpft werden, aus der nun eine Jury den besten Roman wählt. Und hier beißt sich die Betriebsschlange in den eigenen Schwanz: Denis Scheck wurde für die Blogbuster-Jury rekrutiert.

Das ist eine bemerkenswerte Bewegung von zwei Enden hin zu einem Zentrum, in dem jeder das, was er dem anderen neidet, für sich nutzen möchte. So verbandeln sich Scheck und Blogger in vermeintlich inniger Umarmung, um die literaturbetriebliche Körperwärme des Anderen abzubekommen: ersterer, um ein weiteres Feld zu bestellen und der graswurzeligen Initiative seine pfauig-seriöse Kritikeraura zu verleihen, letztere, um die ewig nässende Wunde der Nicht-Legitimation heilen zu lassen, die ihnen geschlagen wurde, als sie sich ohne Befugnis erdreisteten, öffentlich über Bücher zu schreiben. Eine win-win-Situation, inklusive Distinktionsgewinne für alle Beteiligten – ob das ausgezeichnete Manuskript dann auch noch gute Literatur ist, gerät fast schon zur Nebensache.