Über die Sprachendebatte in Luxemburg

von Samuel Hamen
April 25, 2018 / 0 Kommentare

Die luxemburgische Sprache ist in aller Munde. Die Petition 698, die über die offizielle Petition-Prozedur des luxemburgischen Parlaments eingereicht wurde, schreibt sich die Aufwertung der luxemburgischen Sprache auf die Fahnen. Es soll ein Exklusivitätsprinzip herrschen: Das Luxemburgische muss gegenüber dem Deutschen, dem Französischen, dem Englischen, kurz: gegenüber allem Anderssprachigen aufgewertet und verteidigt werden. Mal schäumen die Petitionärsmünder vor Wut, mal zittern sie vor Angst, immer entspringen ihnen indes dieselben Worte: Identität, Mehrsprachigkeit, Ausländer, Heimat. Und wie der Rülpser auf das Glas Rosport folgt, so entweicht diesen Mündern irgendwann wie ein Naturgesetz der Satz: „Mir wölle bleiwe wat mir sin“, der Schutzzauber-Satz, der einem luxemburgischen Nationalvolkslieds des 19. Jahrhunderts entstammt.

Einerseits ist diese neue Achtsamkeit bezüglich der Sprache ein erfreuliches Zeichen. In Ermangelung anderer Werkzeuge aus dem nation-building-Set (etwa einer langen und tüchtigen Historie) ist Sprache für Luxemburg seit jeher ein maßgebliches Identitätsinstrument. Kritisch und fair über die Sprachsituation zu reden – das dient bestenfalls der Überprüfung und Neujustierung der Parameter, mithilfe derer wir in einem globalen 21. Jahrhundert zusammenleben wollen. Und Kommunikation gehört nun mal integral zu einem zivilen und toleranten Miteinander dazu.

Andererseits schert die Diskussion um die Sprachpetition 698 immer wieder in eine neue Unachtsamkeit, ja, Mut- und Böswilligkeit aus. Auf Facebook-Seiten wie „Onst Lëtzebuerger Land“, kurz: OLL, wird verlangt, Ärzte, die kein Luxemburgisch sprechen, „direkt iwwert d’Grenz“ zu setzen. (Add, April 2018: Die Seite wurde zwischenzeitlich von fb gelöscht.) Selbst der Kulinarik widerfährt die Nationalisierung. Unter einem Video auf der OLL-Seite, in dem luxemburgische Gerichte besungen werden, steht als erster Kommentar: „An haut? Kennen se just nach Döner an Bakkalau?“. Und auf der jährlichen Buchmesse in Walfer konnte man letztens Keks-Ausstecher-Förmchen mit der Kontur Luxemburgs kaufen: eine Grenzziehung bis in den Teig hinein – und eine freudianisch nahezu grotesk aufgeladene Symbolik: das eigene Land essen, um es zu bewahren? Bei OLL folgten vier Smiley-Scheißhaufen auf den Döner-Bakkalau-Kommentar. (Bakkalau ist ein Fisch-Gericht, mit dem gemeinhin die portugiesischstämmigen Einwohner Luxemburgs in Verbindung gebracht werden.) Abwertende Kommentare über Flüchtlinge folgen bei anderen Beiträgen auf dem Fuße. Das ist die hässliche 698-Folge: Disparat und differenziert zu betrachtende Phänomene vermengen sich zu einem Brei. Und Brei sieht in seinem finalen Stadium immer gleich aus, nämlich braun.

In diesem debatösen Wirrwarr kommt die Literatur, eines der Hauptfelder, in denen Normen und Möglichkeiten von Sprache ausgehandelt werden, indes kaum vor. Wir reden, zetern und meckern über die Situationen in den Bäckereistuben, Schulen und staatlichen Administrationen; wir glauben zu wissen, wer wann wie sprechen darf. Aber die Literatur, einer der Kompetenzbereiche von Sprache, findet nur marginal Erwähnung. Das ist so schade wie schädlich für den Versuch, ganzheitlich über dieses wichtige Thema zu sprechen. Dabei wissen die SchriftstellerInnen hierzulande durchaus mitzumischen in einer Debatte, die gerade akut ist, deren Vorläufer aber lange zurückreichen.

Als sich in den 70er und 80er Jahren Autoren wie Roger Manderscheid, Jhemp Hoscheit oder Pol Greisch daran machten, die hiesige Szene aufzumischen, wählten sie als Sprache für ihre Texte oftmals das Luxemburgische. Sie verfolgten damit keineswegs ein sprachnationales Programm. Ganz im Gegenteil: Konzepte wie Nation und Heimat wurden einer kritischen Überprüfung unterzogen. 1984 schrieb Roger Manderscheid im Gedicht „Wir sind doch wer“: „wir fluchen, wenns sein muss, im dialekt, / und wollen vom ei ausschließlich das gelbe. // der schuh ist zu groß, den wir anziehen wollen. / wir leben aus zweiter hand: nach schablonen“. Diese skeptische bis polemische Haltung gegenüber Staat und Nation hat eine Tradition hervorgebracht, die auch heutzutage fortgeschrieben wird, beispielsweise im Theaterstück „Lëtzebuerg, du hannerhältegt Stéck Schäiss“ des Künstlerkollektivs „richtung22“.

Es ging und geht freilich auch anders. Die sprachnationale Schreibschiene rastete spätestens mit den Bemühungen von Lucien Koenig, genannt Siggy vu Lëtzebuerg, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Der Patriot Koenig schrieb – je nach analytischer Strenge – nationale oder nationalistische Lieder, Erzählungen und Theaterstücke, darunter das Nationalepos Lucilinburhuc, das mehr als zwölftausend Verse umfasst. Und vier Jahre vor dem Sprachengesetz legte der sendungsbewusste Literaturprofessor Fernand Hoffmann 1980 den Gedichtband „Etüden 1“ vor. Im ersten Gedicht mit dem Titel „Lëtzebuerg: Mammesprooch“ heißt es in mythischer Programmatik über das Luxemburgische: „weidergereecht / duerch d’Joërhonnerten, / méi al wéi d’Riewe laanscht d’Musel / wéi d’Bichen an d’Eechen aus eise Bëscher“.

Allen geht es letztlich um die Valorisierung des Luxemburgischen. Gefährlich wird es, wenn das Luxemburgische unnachgiebig und hierarchisch als die erste und beste und wertigste aller Sprachen inthronisiert wird. Denn: Es ist kein Privileg, gerade auf Luxemburgisch denken, lesen und schreiben zu dürfen. Genau das aber ist die grundsätzliche Denke der 698-Bewegung. Analog hierzu heißt es in Hoffmanns Gedicht am Ende: „du bas / di schéinst vun alle Sproochen / du bas / méng Sprooch.“ Wenn das eine das Schönste ist, ist alles andere dieser superlativischen Logik zufolge weniger schön und schlimmstenfalls unerwünscht.

Wie ein fairer und fruchtbarer Umgang mit unserer Mehrsprachigkeit aussehen kann, haben in jüngster Zeit verschiedenste KünstlerInnen unter Beweis gestellt. Das Theaterstück „Refugium“ wurde vor wenigen Wochen acht Mal im Kasemattentheater in Luxemburg-Stadt aufgeführt – jeweils zweimal auf Französisch und Deutsch sowie viermal auf Luxemburgisch. In „Retrouvailles – Fundstücke“, dem Sammelband des „Centre national de littérature“, ist ein Gespräch zwischen dessen Direktor, Claude D. Conter, und Guy Rewenig abgedruckt. Sie unterhielten sich auf Deutsch, Französisch und Luxemburgisch miteinander – und Rewenig las am Veranstaltungsabend aus Texten in allen drei Sprachen vor. Diese Aufzählung lässt sich problemlos weiterführen. Jeff Schinker erzählte vor zwei Wochen im Gespräch, ausländische Schriftsteller, die er in Berlin treffe, sprächen ihn immer wieder achtungsvoll auf seine literarische Viersprachigkeit an. Ein Leseabend des Künstlerkollektivs „Independent Little Lies“ wurde vor wenigen Monaten im MUDAM ebenfalls in vier Sprachen abgehalten. Auch das „Géisskan“-Kollektiv hält mehrsprachige Poetry-Slams ab. Eine Vorrangigkeit des Luxemburgischen würde in den nächsten Jahren und Jahrzehnten diesen so flexiblen wie produktiven Umgang mit unseren Sprachen unterminieren.

Es geht bei dieser Streitsache nämlich nicht um einen punktuellen Zwist, sondern um eine sprachpolitische Frage, die in Zukunft immer wieder und immer stärker gestellt werden wird. Gerade die Literaturszene kann hierauf Antworten geben. Sie kann aufzeigen, wie sich abseits nationalistischer Einschläge über Sprache sprechen lässt, wie sie valorisiert werden kann, ohne sie polemisch und exklusiv gegen andere Sprachen (und Anderssprechende) auszuspielen. Mithilfe ihrer Kernfähigkeit, der artistischen Sprachkompetenz, kann Literatur sich der Problemlage, die so viele Menschen beschäftigt, annehmen und sie zum Gegenstand ihrer kritischen Überlegungen machen. Womöglich gelänge es ihr sogar, jene Mängel anzugehen, unter denen sie hierzulande seit jeher leidet beziehungsweise zu leiden glaubt: ihre marginale Sichtbarkeit, ihr begrenztes Publikum und ihre unterschlagene Relevanz.