Ferdinand von Schirach: Strafe

von Samuel Hamen
April 27, 2018 / 0 Kommentare

Ferdinand von Schirachs Erzählungen lassen sich gut beschreiben, indem aufgezählt wird, was sie alles nicht haben: keinen Humor, keine tiefen Charakterzeichnungen, keine elaborierten Beschreibungen, keine emotionale Nähe zu Figuren oder Erzählern, kein Sprachbewußtsein. Alles in Schirachs Sätzen is karg; der Realität wurde der Schein und mit ihm jeder Spaß und jede Ausschweifung abgekratzt. Das herabgedimmte Schreiben kennen wir bereits aus Schirachs Erzählbänden „Verbrechen“ von 2009 und „Schuld“ von 2010. Und auch in seinem neuen, knapp zweihundert Seiten umfassenden Buch „Strafe“ geht Schirach exakt diesen Weg. Alles andere hätte auch überrascht: Schirach war und ist ein One-trick-pony-Schriftsteller, der weniger wegen seiner Themen und seines Stils interessant ist, sondern eigentlich nur, weil man sich beim Lesen (und Schauen seiner Mitmach-Filme) immer wieder fragt, wieso er mit seiner übersichtlichen Prosa so erfolgreich ist.

Die zwölf Geschichten in „Strafe“ handeln erneut von Leid und Rache, von Sühne und der Unmöglichkeit, einen Menschen seiner Strafe beziehungsweise Rettung zuzuführen. In „Das Seehaus“ erzählt Schirach von Felix Ascher, einem Versicherungsangestellten, dessen Leben, wie es so schön heißt, unauffällig verlaufen ist – bis etwas kippt, bis ein Riss sich auftut: „Mit einer Flasche Wacholderschnaps setzt er sich auf die Bank vor dem Haus und betrinkt sich langsam. Das Gewehr hat er an die Wand neben sich gelehnt. Als es dunkel genug ist, zieht er die rosa Spülhandschuhe an, die er in der Küche gefunden hat.“ Wir ahnen es: Kurz darauf folgt ein Gewaltausbruch. Felix Ascher greift rosabehandschuht zur Waffe, um sich dafür zu rächen, dass ihm die kleine Ruhe genommen wurde, in der er sich eingerichtet hatte.

Ein Tragik folgt auf die nächste

Bei allen Erzählungen in Schirachs Band stoßen wir auf ein sprachliches Rudiment, auf einen Restbestand an Erzählmaterial, dem jeglicher Ballast abgeht. Kantig stoßen Sätze aufeinander, allen fehlen die Konjunktionen, die Abers, Unds, Trotzdems und Deswegens. Es gibt keine Bezüge mehr in dieser Welt, nur unverständliche Relationen, die ausschließlich der schreibende Anwalt Ferdinand von Schirach erkennt und zu einer seiner Erzählungen zu verknüpfen weiß. Womöglich sind Autorfiguren wie er, Bernhard Schlink und Juli Zeh auch deswegen so erfolgreich, weil sie von ihrer juristischen Autorität zehren, weil sie in die sogenannten menschlichen Abgründe blicken wie andere in Staubsaugerrohre, um zu schauen, was denn jetzt schon wieder klemmt. Und Schirach schaut sehr gerne in Abgründe und findet dort, wo andere wenig bis nichts sehen, zuverlässig das Tiefsinnige, Absonderliche und Tragische.  „Der Taucher“ handelt von einem Ehepaar, das sich auseinanderlebt. Der Mann driftet nach und nach ab, in Gedanken und Räume, in die ihm niemand folgen kann: „Mit der Geburt hatte sich alles verändert. Ihr Mann war im Kreißsaal gewesen, er hatte es so gewollt. Der Arzt achtete nicht auf ihn. Später erfuhr sie, dass ihr Mann zugesehen hatte, wie sich ihre Vagina öffnete, dass er ihr Blut, ihren Urin und ihren Kot gerochen haben musste. Der Arzt legte das Kind auf ihren Bauch, er sagte, es sei noch voller Käseschmiere. Das Wort wiederholte er später oft.“

Mal werden die Figuren wegen ihrer Tat, darunter Mord und gefährliche Körperverletzung, verurteilt. Mal werden sie freigesprochen oder kommen ungeschoren davon. Aber selbst das vermeintliche Happy End tröstet kaum, hat sich die existenzielle Einsamkeit doch längst in diese Leben hineingefressen wie Motten in einst geliebte Wollpullis. Gewiss, die narrative Unnachgiebigkeit, die weder Mitleid noch Moralisierung kennt, erzeugt einen starken Sog. In der Erzählung „Die falsche Seite“ begleiten wir den Anwalt Schlesinger, der längst resigniert hat: „Er schlief auf dem Sofa in der Kanzlei und duschte in einem winzigen Bad hinter der Teeküche. Seine Sekretärin hatte er entlassen. Er hielt sich längst für einen verkommenen Menschen.“ Gerade dieser Schlesinger übernimmt den Fall einer Frau, der vorgeworfen wird, ihren Mann erschossen zu haben. So wie der spiel- und alkoholsüchtige Anwalt sich aufgegeben hat, so sieht er auch für seine Mandantin keine Chance. Erst eine Prügelei und ein Hinweis von unverhoffter Seite wenden das Glück.

Die Sprache wird zum Kniff

Aber eine Frage bleibt: Was bieten die Erzählungen dem Leser außer ein wenig True-Crime-Flair an? Ist es die Einsicht, dass jeder – der Nachbar, die Postbotin, der Lehrer und die Tochter – ein Monster, eine Mörderin sein kann? Ist das nicht etwas wenig für das Label: einer der wichtigsten Gegenwartsautoren? Die Weisheit hält jeder Polizeiruf bereit. Und sprachlich gelangt Schirach in „Strafe“ eh an das Ende seines Stils: Er persifiliert sich nämlich, so der Eindruck schon nach wenigen Seiten, die ganze Zeit selbst. Etliche Passagen klingen so, als ruhe sich ihr Verfasser auf seinem Bestseller-Sound aus. Dann wirkt es, als ahme gerade jemand auf perfekte Weise den Schirach-Ton nach. Die Sprache wird zum Kniff: „Sie stieg in ein Taxi, auf dem Armaturenbrett klebten Fotos, eine Frau mit Kopftuch, ein Junge im Fußballtrikot. Der Wagen fuhr über eine Brücke, der Rhein floss breit in der Sonne.“ Eine Farce, ein Spiel, wer es schafft, den unnötigsten Details eine Schwere zu verleihen: Der Wagen fuhr über eine Brücke, dann durch einen Tunnel, immer auf Straßen, meistens auf Asphalt, nie auf Wolken, ahja.

Schirach baut dabei darauf, was Roland Barthes den „effet de réel“, den „Realitätseffekt“ genannt hat. In die Erzählungen sind immer wieder Details eingesetzt, die eigentlich vollkommen nebensächlich, belanglos, irrelevant sind. Aber sie garantieren in der schieren Menge, in der sie auftauchen, eine welthaltige Aura, sie strahlen und raunen vor sich hin. Sie sind der Dekor, aus dem sich die Atmosphäre des bitter Realen speist, ohne die sich die Erzählungen rasch als das erweisen würden, was sie im Kern sind: eine philosophisch triviale Jonglage mit Begriffen wie Sühne und Rache. In „Lydia“ geht es um einen vereinsamten Mensch, der sich in eine Sexpuppe verliebt und mit ihr eine Beziehung führt. An einer Stelle heißt es: „Er steckt die Hände in die Hosentaschen und sieht aus dem Küchenfenster.“ Er hätte sich auch den Kragen richten oder die Falte glattstreichen und aus dem Badfenster oder dem Türspion schauen können – es ist egal, es ist erzählerische Willkür, die sich den Touch des Existenziellen verleiht. So geht das seitenweise, bis wieder eine der Figuren, die bei Schirach nichts als Maschinen der Schuld, Verdrängung und Scham sind und dementsprechend kein erzählenswertes Innenleben besitzen können, eine bizarre Tat begehen. Schaut, heißt es dann erneut, zu was Menschen fähig sind. Schaut, wie ich euch zeige, zu was sie fähig sind, und dabei so tue, als wären die Menschen unergründbar, obwohl ich lediglich daran scheitere, mit Literatur mehr anzustellen als mittelmäßige juristische Schauer-Stories in Endlosschleife zu schreiben.