Mike Wilson: Rockabilly
Wer „Rockabilly“ aufschlägt, mag sich kurz der Hoffnung hingeben, dass es auf den folgenden Seiten schön wird, schal und schmonzettig wie bei einem Liebessong im Rock-Country-Sound aus Nashville. Als Motto stellt Mike Wilson seinem Kurzroman zwei Zeilen aus Roy Orbisons „Only the Lonely“ von 1960 voran: „Only the lonely / Know the way I feel tonight / Only the lonely / Know this feelin‘ ain’t right.“
Natürlich wird die Leserschaft daraufhin enttäuscht. In „Rockabilly“ gibt’s keinen gefahrlosen Blick in den Abgrund, wie ihn uns Orbisons lauwarm temperierte Ballade anbietet. Als Kontrast zum Kommenden ist diese ein halbes Jahrhundert alte Melancholie freilich nicht ganz fehl am Platz. Denn je öliger der Song beim Lesen nachklingt, umso schiefer, suspekter, ja, wahrer wirken „the lonely“ in diesem Buch, die vier Figuren, die der argentinisch-amerikanische Autor Wilson in seinem so grandiosen wie minimalistischen Kabinettstück auftreten lässt.
Es beginnt mit einem Meteoriteneinschlag im Garten der titelgebenden Figur. Das Ereignis gibt die Dynamik der Nacht vor: Rockabilly fängt fraglos an zu buddeln; seine Nachbarin, die 15-jährige Suicide Girl, bleibt ratlos zurück, als sie merkt, dass eine ihrer Brüste anschwillt und anfängt, Milch zu geben. Babyface rennt derweil durch die Nachbarschaft, er leidet an einer seltenen Genkrankheit und schrumpft körperlich zurück, er habe, sagt er, den „Kopf eines dreiundvierzigjährigen Babys“. Und ein Hund namens Bones fängt an, zu denken. So weit, so ungut. Der Meteoriteneinschlag ist eine schöne (und wie ich jetzt mal mutmaße: direkte) Hommage an H. P. Lovecrafts Story „Die Farbe aus dem All“, in der ein mysteriöses Stein aus dem All das Farmland eines Bauern kontaminiert und sich allmählich in die Körper und Psychen der Figuren hineinschleicht. Einer solchen allmählichen irrsinnigen „Beschleichung“ sind auch Wilsons Figuren ausgesetzt. In kurzen Kapiteln wechselt Wilson nämlich zwischen den Perspektiven der vier Outsider, um eine Nacht lang deren fahrige Ängste und gehemmten Hoffnungen einzufangen. (Mit dieser Erzählstruktur verweist Wilson auf einen weiteren Text, an dem er sich, so meine dreiste Unterstellung, ausgerichtet hat: Steven Millhausers „Zaubernacht“. Auch dort ist die Handlung zeitlich begrenzt auf die Stunden zwischen Sonnenuntergang und -aufgang. Auch dort folgt die Leserschaft in Kurzkapiteln einzelnen amerikanischen Figuren, die ihren tagsüber weggesperrten Wünschen bzw. Albwünschen nachgehen bzw. verfallen.)
Ihre sonderbaren Kosenamen werden die vier Figuren nicht ablegen. Wer braucht auch schon die richtigen Namen, wenn die falschen Leben gelebt werden? Die Figuren kennen wenig mehr als Langeweile, Wut, Scham sowie die in Aussicht gestellte lebenslängliche Variation dieser Zustände. Und ihre sexuellen Phantasien nehmen sie als beschämend wahr, als Beweis für die eigene Niederträchtigkeit. Kein Wunder also, dass sich das Quartett einer Lockung entgegensehnt, die alles aus den Fugen heben könnte. Sie sind wenn auch nicht bereit, so doch allzu willig, den Meteoriten als Zeichen einer Veränderung anzuerkennen. Rockabilly etwa wird sich besinnungslos in den Krater hineinbuddeln, um an den Himmelsstein zu gelangen. Dass er sich dabei sein eigenes Grab schaufelt, ist eine der vielen fiesen Vetracktheiten, die Wilson seinen Figuren zumutet.
Denn hier erwächst aus jeder Geste eine Gefahr, aus jeder Annäherung ein Missverständnis, aus jeder aufrichtigen Lust eine Bedrängnis. Und am Ende steht immerzu die Gewalt, sei es bei Babyface, der ins Schlafzimmer von Suicide Girl eindringt, um in ihrer blutenden Fußwunde zu fummeln. Oder bei Suicide Girl selbst, die ihre Mutter mit einem Telefonkabel würgt, während im Hintergrund Werbung für Wal-Mart läuft. Ob Versöhnung, Verschonung oder Verschönerung, aus diesem Sortiment bietet „Rockabilly“ nichts an.
Weg und woanders sein
In einem Essay hat Mário Gomes, der den Text aus dem Spanischen übertragen hat, dann auch geschrieben, „dass Realität nichts anderes ist als der Widerstand, gegen den die Literatur ankämpft und in den sie, wenn nicht Löcher, so zumindest Dellen zu schreiben hat.“ Gut möglich, dass Gomes diesen Gedanken u. a. anhand von „Rockabilly“ entwickelt hat. Auch hier verwehrt sich eine Literatur dem bloßen Abbilden von Realität mit ihrem alltäglichen Personal. Auch hier wird das Schreiben als Rüstzeug erachtet, um den Zumutungen der Welt mit aberwitzigen und abgründigen Konstellationen zu begegnen.
Als Sinnbild für dieses Gegenschreiben steht im Roman ein mysteriöses Tattoo, ein Pin-Up-Girl, das Rockabilly auf dem Rücken trägt. Es entwickelt im Laufe der Zeit ein Eigenleben, wird zum soghaften Zentrum aller Blicke. Rockabilly selbst wird zum „Fleisch, das am Tattoo hängt“, während Suicide Girl sich danach sehnt, selbst das Pin-Up-Girl auf seinem Rücken zu sein. Und klar, das Tattoo ist auch die Literatur, das tintig Festgelegte, das, was wir in unsere Haut einsickern lassen, um gezeichnet zu werden. In einem Tonfall, der seine katholisch-kryptische Lebenswende verrät, notiert Hugo Ball am 14. Mai 1921 in sein Tagebuch: „Ob man sich ein Herz auf die Stirn tätowieren sollte? Alle Welt würde dann sehen: das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen. Und das es ein tintenblaues, agonisches Herz wäre, könnte man auch sagen: der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen. Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.“
Das zum Leben erwachte Tattoo ist jener „Schrecken“, der zuerst Rockabilly, dann Suicide Girl, am Ende die Leserschaft von „Rockabilly“ trifft. Wenig verwunderlich also, dass alle in diesem Kammerstück weg bzw. woanders hinwollen: In einer Szene, die hoffnungslos kalt, zugleich berührend warm ist, stellt sich Babyface in einen von der Decke baumelnden bodenlosen Topf, um endlich samt entstelltem Gesicht zu verschwinden. Geradezu souverän wirkt dagegen der denkende Hund Bones, wie er Autos hinterherjagt, von Dächern kläfft und ständig an „Ärschen“ schnuppert.
„Ich möchte eine Pepsi-Cola.“
Freilich bietet Wilsons Roman auch eine gesellschaftspolitische Lesart an. Ja, der berüchtigte amerikanische Traum ist wahlweise ausgeträumt, zum Alptraum geworden oder geplatzt. Und nach dem bösen Erwachen bleibt nichts als körniger Schlaf in den Augen, in diesem Fall: Angehörige der amerikanischen Unterschicht, die perspektivlos und prekär in Vororten hausen. Auch von diesen zum Scheitern verurteilten Biographien wird hier berichtet, vom Junkie und Schrottsammler Rockabilly und dessen „kleiner häuslichen Apokalypse“, von Suicide Girl, deren Fixpunkt nicht die alkoholkranke Mutter, sondern eine Eidechse namens Chuck ist, von Babyface, der, gefragt, ob er wisse, wo er sei, bloß antwortet: „Ich möchte eine Pepsi-Cola.“
Wer „Rockabilly“ aber ausschließlich als soziales Schauspiel liest, der schaut sich wahrscheinlich auch Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ als bloßen Geschichtsfilm an. Beide Male kommt die eigentliche Pointe abhanden, das Groteske, Überzeichnete und Heißgelaufene, das hier eingefangen wird. Diese große wirre Freiheit entfaltet „Rockabilly“ auf kleinstem Raum. Nicht mal hundert Seiten sind vonnöten, um – ohne den Ballast einer pflichtbewussten Mimesis-Schreibe – alles in schwärzester Koordination ineinander stürzen zu lassen: Pop-Zitate und TV-Schreckensbilder, die US-Topographie und die Tristesse des dritten Jahrtausends, eine wunschlose Brutalität und eine klammheimlich gehegte Hoffnung vom besseren Leben.