Heather Christle: Weinen
Die einen weinen bei „Der Herr der Ringe“, wenn Boromir pfeildurchsiebt zu Boden geht; die anderen greifen zum Taschentuch, wenn Kate Winslet in „Titanic“ ihren liebsten Jack im Eiswasser versinken sieht. Wer weint wann? Und warum ist so häufig ein Film der Auslöser? Diese Fragen beschäftigen auch die US-amerikanische Lyrikerin Heather Christle. In ihrem Essay über das Weinen erwähnt sie eine Studie des Biochemikers William H. Frey. 1985 führte Frey Experimente durch, um die Gründe des Weinens zu erforschen. Im Gespräch mit Christle berichtete er von den Begleitumständen seiner Forschung: „Frey sagt, er und sein Team hielten ʹAll Mine to Give – Befiehl Du Deine Wegeʹ für den Film, der Menschen am sichersten zum Weinen bringe. Er habe sich angewöhnt, für seine Versuchspersonen die Play-Taste zu drücken und schnell den Raum zu verlassen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen.“
Am Weinen lassen sich zahlreiche widerstreitende Diskurse dingfest machen. Da wäre etwa die Subjektivität des Weinenden und die Objektivität desjenigen, der ihn wissenschaftlich – oder literarisch – beobachtet. Auch die Authentizität der Träne hinterfragt Christle in ihrem Buch. Wie tränenverquollen muss ein Gesicht sein, damit das Weinen authentisch ist? In kurzen Absätzen geht die Schriftstellerin diesen und weiteren Fährten nach, um das Weinen in seiner sozialen, politischen und ästhetischen Dimension zu begreifen. Ihre Recherche umfasst biographische Erinnerungen ebenso wie Ausführungen zu psychologischen Experimenten und Auszüge aus Romanen, in denen das Weinen eine Rolle spielt, etwa Sylvia Plaths „Die Glasglocke“. Auch die geschlechterspezifische Kodifizierung, wer wann Tränen vergießen darf, hat der Essay im Blick. Denn eine feministische und grundsätzlich emanzipative Einstellung tut bei diesen Fragestellungen not:
„Brittney Cooper erklärt die besondere Macht der Tränen an der Schnittstelle von Weißsein und Weiblichkeit: ʹDie Tränen einer Weißen scheinen vielleicht nichts Besonderes zu sein, sie sind aber sehr gefährlich. Wenn weiße Frauen mit ihren Tränen signalisieren, dass sie sich unsicher, missverstanden oder angegriffen fühlen, erhebt sich die ganze Welt zu ihrer Verteidigung. Der Mythos von der Verletzlichkeit der weißen Frau weckt zwangsläufig in allen Männern Beschützerinstinkte, ungeachtet ihrer Rassenzugehörigkeit.ʹ“
Der Essay als Mobile
Im deutschen Sprachraum hat Marcel Beyer 2017 die Reichweite von Tränen ausgelotet. In seinem Buch „Das blindgeweinte Jahrhundert“ bündelt und erweitert Beyer Reden, Poetikvorlesungen und einzeln erschienene Aufsätze. Im Vergleich zeigt sich, dass hier zwei Varianten von Essayistik praktiziert werden: Beyer blickt aus einer europäischen Schreibtradition eher besonnen auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, um nach dem Konnex von Historie, Biographie und Emotionalität zu fragen. Christle entspringt dagegen der anglo-amerikanischen Tradition des personal essays; damit steht sie selbstbewusst neben Autorinnen wie Maggie Nelson oder Lauren Elkin. In mosaikkleinen Paragraphen führt sie ihre Materialsammlung zusammen, als Leim dient dabei ihre Biographie.
Nur an einigen Stellen überzeugt diese Struktur der losen Scharniere nicht, etwa wenn die Autorin einen Anfall von Augenmigräne schildert, nachdem sie Porträtfotos betrachtet hat, auf denen Tränen retuschiert wurden. Ansonsten geht die Rechnung vollends auf: In „Weinen“ verbindet sich das Analytische mit dem Subjektiven, die Kulturzeugnisse der Träne treffen mit der Lebenswirklichkeit der Schriftstellerin zusammen. Als magnetische Kraftzentren figurieren der Suizid eines Freundes sowie Christles Überlegungen zu ihrer Rolle als Mutter. Mehrmals erwähnt sie ihre Schwangerschaft, später ihre Überforderung und ihre Tränen, wenn die Tochter nicht aufhört, zu schreien:
„Eines Nachmittags sagt der Test, ja, schwanger, gut gemacht, super. Ich weine nicht. Chris weint auch nicht. Ich rufe meine Mutter an, die sagt: ʹIch fang gleich an zu heulenʹ, was sie auch tut. Der vertraute Kloß in der Kehle. Ich spüre ihn. Ich will der Versuchung schon nachgeben, als mir klar wird, dass ich eine ikonografische soziale Rolle erfülle, und da erlischt mein Drang zu weinen abrupt.“
Die schriftstellerische Biopsie als Poetik
Heather Christle, die bisher vier Gedichtbände veröffentlicht hat, legt ein starkes Formbewusstsein an den Tag. Das mag mit ein Grund sein, weshalb ihr Essay ohne Betroffenheitsprosa auskommt, die einem Gefühl nachgeht, ohne es in den Griff zu bekommen. Der empfindsame Sound ist nur ein gut gerierter Modus unter vielen in dieser kleinen Philosophie des Weinens. Es wäre einseitig, ja wohlfeil, ein so intimes Sujet wie das Weinen zu behandeln, ohne die eigene Gefühls- und Körperwelt zu beachten. Die schriftstellerische Biopsie ist in diesen Zeilen kein Ausdruck voyeuristischen Bekenntniszwangs. Im Gegenteil, sie ist integraler und zugleich reflektierter Bestandteil dieses Schreibens: „Es missfällt mir, in diesen Zeilen so viel über mich selbst zu lesen. Es missfällt mir, dass sich das Leben von Müttern binnen hundertdreißig Jahren so wenig verändert hat. Ich habe Angst um die Zukunft meiner Tochter. Ich habe Angst, zusammenzubrechen.“
Zum Eindruck einer gelungenen Konstellation trägt auch die Übersetzung von Sabine Hübner bei, die unterschiedlichsten Textsorten gerecht wird, darunter sind Gedichte und wissenschaftliche Aufsätze. „Weinen“ ist nicht zuletzt deswegen so stark, weil die Autorin dem sexistischen Klischee der Tränendrüsenfrau entgegentritt, die angeblich bei jedem Anlass gefühlig wird. Der Essay tut dies auf belesene und affirmative Weise. Denn die Emotionalität des eigenen Denkens wird in „Weinen“ weder geleugnet noch sentimentalisiert. Stattdessen wird sie als Teil einer umsichtigen intellektuellen Arbeit begriffen.