Über Carlo Thein
Die Kennnummer des Beitrags lautete I2925, der Titel des Manuskripts Cartheserhof. 1963 reichte der Luxemburger Carlo Thein den Roman, an dem er lange gefeilt hatte, beim Deutschen Erzählpreis ein. Der von der Zeitschrift Der Stern organisierte Wettbewerb wurde in dem Jahr erstmals ausgeschrieben und erfreute sich größter Beliebtheit – rund 2000 Texte wurden der Jury vorgelegt. Zu den zwanzig Einreichungen, die in die engere Auswahl kamen, zählte der Cartheserhof nicht. Aber es soll hier keinesfalls um die Geschichte einer Missglückung gehen. Im Gegenteil: Die Ambition und Könnerschaft, mit der der 1925 in Ettelbrück geborene Thein sein Schreiben verfolgte, sind außerordentlich. Und es lohnt sich, ein gutes halbes Jahrhundert später Schlaglichter auf Leben und Werk dieses heute vergessenen Autors zu werfen.
Im Nachlass im Centre national de littérature befinden sich zum Cartheserhof mehr als tausend Seiten an Manuskripten, Typoskripten und Notizheftblättern voller Streichungen und Ergänzungen. Der Roman spielt auf einem luxemburgischen Bauernhof und berichtet von der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs. Thein holt tief Luft, um mit epischem Atem von vielem zu erzählen: von der Pflicht, der Familie treu zu bleiben, vom sexuellen Begehren, von der Willkür der Macht, den Traumata der Geschichte und von den vielen Wunden, die einem Einzelnen im Laufe der Jahre geschlagen werden. Der weitläufige und vielschichtige Roman wurde indes nie veröffentlicht, ja, bis heute liegt keiner von Carlo Theins Texten in Buchform vor.

(c) CNL, L-78; III.1
Dabei pflegte er in den 1960ern Umgang mit vielen Schriftstellern, die die literarische Szene Luxemburgs über Jahrzehnte hinweg prägten. Mit Roger Manderscheid, der ihn öfters in seinem Wohnort Welscheid besuchte, verband ihn eine Freundschaft, die über das Literarische hinausging. 1967 nahm er an der ersten Lesung in der sogenannten Consdorfer Scheune teil, einer Art Inkubationszentrum jüngerer Kunst, das sich gegen den Muff der Nachkriegszeit stellte. Im selben Jahr hielt er gemeinsam mit dem Dichter Émile Hemmen im Eisenbahnerkasino in Bonneweg einen Lektüreabend zum Thema „Krieg und Frieden“ ab. (Die russische Literatur habe er zeitlebens intensiv gelesen, erinnerte sich im Gespräch die Witwe; mehr als Tolstoi habe er sich aber Dostojewksi und dessen Psychogrammen zerrissener Menschen zugewendet.) Über einen Auftritt vor dem Differdinger Studentenklub befindet der Literaturkritiker Michel Raus ebenfalls 1967, Thein verfolge nach wie vor „sein literarisch-moralisches Anliegen“. Mit seinen Texten verschreibe er sich „de[m] Kampf gegen Krieg und Feindschaft“.
Humanismus und Solidarität

Notizheft zum Roman „Cartheserhof“, (c) CNL, L-78; I.1.1
Carlo Theins Lebenslauf ist auch deswegen so interessant, weil er einen Kontrapunkt zu etlichen Schriftstellerbiografien in Luxemburg setzt. Nach der Handwerksschule, die er zu Beginn der 1950er Jahre als mécanicien-ajusteur abschloss, arbeitete er zuerst bei der SOLA, der Société Luxembourgeoise d’Armes, ab 1953 beim Reifenhersteller Goodyear, schließlich ab 1971 bis zu seinem Tod 1979 beim Ausbildungszentrum Institut Médico Professionel. Wie sehr dieser Alltag den Nachlasspapieren eingeschrieben ist, zeigt sich nicht zuletzt an den vielen losen Notizblättern. Auf der einen Seite der Zettel finden wir seine Satiren, die wie Vertextungen zu Georg Grosz‘ Portraits der Feisten und Mächtigen klingen, auf der anderen Seite Anweisungen aus der Fabrik: „Beim Ende der 3. Schicht, alle Leute vom machine shop in jedem departement beauftragen, daß sie nachsehen müssen, ob alles Kühlwasser von Maschinen zugedreht ist.“
Es sind Spuren einer seltenen und in Luxemburg bis dahin ungekannten Konstellation. Tatsächlich waren (und sind) die meisten Autoren im Großherzogtum bei Ministerien, staatlichen Einrichtungen oder in Schulen tätig. Die Luxemburger Literatur ist zuerst eine Literatur von bürgerlichen Notabeln, später von Staatsbeamten gewesen – das lässt sich bis in die Schmierzettel dieser Schriftsteller hinein verfolgen: Unterrichtspläne, ministeriale Tagesordnungspunkte, Kommissionstermine – auf diesem Papier wuchs die Literatur in Luxemburg heran. Thein hingegen gewinnt erst als lesender und schreibender Arbeiter an Profil, als jemand, der sein Milieu und seine gesellschaftspolitischen Überzeugungen mit seinem Schreiben verknüpfte. Damit importiert er als „Exot“ die in den 60er und 70er Jahren beliebte soziale Arbeiterliteratur nach Luxemburg, ohne ihr indes zum Durchbruch verhelfen zu können. Dass er damit keinen publizistischen Erfolg hatte, wirft auch ein Licht auf die damaligen Marktverhältnisse und Lesegewohnheiten. (Noch 1972 mahnt der damals unumgängliche Literaturkritiker Léopold Hoffmann in einer Rezension an, Carlo Thein in eine neue junge Literaturreihe aufzunehmen – vergebens.)
Sein humanistisches und solidarisches Literaturverständnis zeigt sich etwa in den erwähnten Satiren, die Thein, der lange Zeit in der LSAP tätig war, zwischen 1964 und 1967 im Le Phare, dem Feuilleton des linken Tageblatts, veröffentlichte: Im Märchenformat werden Sozialismus und Pazifismus miteinander verknüpft. Der kriegstreibende Kapitalist Uranus trifft in den kurzen Erzählungen auf eine friedliebende, zugleich widerständige Arbeiterschaft, die er umgarnt und gleichzeitig belügt: „Nur der kleine Mann, der so weise und so erfahrene Geprügelte des Lebens trat vor, lächelte und sprach: ‚Wir sind arme, kleine Zwerge und rot sind unsere Bärte und unsere Herzen. Die Welt braucht Nachttöpfe, keine Stahlhelme!‘“

Zeichnung von Jim Abens, (c) CNL, L-78; IV.1
Eine Art Zwillingsprojekt hierzu sind dialogische Miniaturen, an denen Thein lange Zeit arbeitete. In den ein- bis zweiseitigen Texten geraten prototypische Figuren in wechselnden Konstellationen aneinander: Der „Neinsager“ verhindert jeglichen Konsens, der „General“ ergeht sich in kriegerischem Zynismus, der „Direktor“ hat nur den wirtschaftlichen Erfolg seines Etablissements im Sinn. Nichts als Schreihälse, Drückeberger und Opportunisten, nichts als Fratzen, Fratzen, Fratzen. Der Zeichner Jim Abens steuert zu einigen der Erzählungen Illustrationen bei.
Splitter im Stahlhelm
Aber dieses Œuvre kennt noch weitere Spielarten, in den 60ern verfasste Thein etwa zwei lesenswerte Ungarn-Portraits. Einen besonderen Bezug zum osteuropäischen Land hatte er während des Zweiten Weltkriegs aufgebaut, als er als Zwangsrekrutierter der Wehrmacht an der dortigen Front kämpfen musste und schwer verwundet wurde. In seinem Tagebuch hielt er am 23. Dezember 1957 fest: „Heute vor 13 Jahren wurde ich in Ungarn durch russischen PaK-Beschuss zum 2. Mal verwundet. 3 Splitter durchschlugen den Stahlhelm, wovon 2 im Lederfutter und im Kopfschützer hängenblieben. Der dritte war in meiner Rübe und wurde auf dem Hauptverbandsplatz operativ entfernt.“
1965 gab er der ersten Reportage im Tageblatt den Untertitel Objektive Reportage, fünf Jahre später bezeichnet er eine zweite Serie als Reportage ohne Kommentar. Der Anspruch ist klar: sich selbst zurückzunehmen und das Schreiben in den Dienst einer überindividuellen Erkenntnis zu stellen. Die soziale Realität des kommunistisch regierten Landes soll vermittelt, ein Einblick in den Alltag ihrer Einwohner gewährt werden. (Die politische Herrschaftsform wird dabei wohlweislich zu großen Teilen ausgeblendet, damit die Reportage in keine weltanschauliche Schieflage gerät. Auch in dieser Hinsicht weist sich Thein samt seiner blinden Flecken als Zeitgenosse aus.)
Ein nie veröffentlichtes Künstlerbuch
Im Laufe der Jahre tritt bei Thein neben die Prosa die Lyrik, neben den Realismus der Romane die Lust am dichterischen Spiel. Dabei entdeckt der Autor auch den Nonsens für sich. „Dada wished to replace the logical nonsense of the men of today with an illogical nonsense“, so resümiert die französische Kunstkritikerin Gabrielle Buffet-Picabia das Programm des Dadaismus. Der Unsinn ist in diesem Sinne auch bei Thein immer auch ein politisches Statement, gerade weil er die Protokolle, wie etwas zu verstehen ist, in Frage stellt.

(c) CNL, L-78; I.2.1
Das Künstlerbuch erlenwind, hautauf, hautab steht in dieser Tradition der unsinnigen Intervention. Es greift auf ein Langgedicht Theins zurück, dessen bizarrer Titel bereits bezeichnend ist: die linke pfote meines hundes tut weh. Gemeinsam mit den Illustratoren und Graphikern Jeannot Bewing, Georges Fischer, Nico Kieffer, Roger Kieffer, Nico Thurm und Pierre Ziesaire sollte 1971 ein großformatiges livre d’artiste inklusive Originalgraphiken entstehen. Das Projekt fand aus unbekannten Gründen nicht zum Abschluss; übrig blieben aufwändige Planungsskizzen und Gedichtzeilen, die gekonnt zwischen Ernst und Klamauk changieren: „zu was magst du taugen als zum zerschmettern? / bronzezähne, zinnenzahn, quaderkrone. / oh der schmetterzähne, da ist kein ende. verwischter anfang, wo gehst du hin?“
Schritt halten mit dem Gegner
Ja, in welche Richtung bewegte sich die Gesellschaft damals? Theins Literatur ist immer auch einem diagnostischen Moment verpflichtet. Die erwähnten Zeitsatiren enden beispielsweise stets damit, dass Uranus „weitergeht“, nachdem die Zwerge seinen Herrschaftsanspruch abgewiesen haben. In seinen Fiktionen des Klassenkampfes, die an den weltanschaulichen Schematismus der damaligen Zeit gebunden sind, mag die Arbeiterschaft mit ihren roten Bärten, Mützen und Herzen das Gefecht jeweils gewinnen. Die Systemfrage können sie jedoch nicht für sich entscheiden. Den Neoliberalismus ab den 1980ern erlebt Carlo Thein dann nicht mehr mit – 1979 erliegt er dem Lungenkrebs mit gerade einmal 54 Jahren. In einem Kondolenzbrief erinnert sich Roger Manderscheid an seine „herzhaft burschikose art, seine fröhliche freundlichkeit“.
Sicherlich hätte er in seinem weiteren Schreiben die Zwerge immer wieder gegen Uranus antreten lassen, gegen den Thatcherismus, gegen die allmähliche Demontage des Sozialstaates in den Folgejahrzehnten. Seine Literatur ist unabhängig von der Formatwahl eine zutiefst politische, geschult an der littérature engagée, geboren aus der persönlichen Kriegs- und Arbeitserfahrung. Sie vereint das utopische Potential des Sozialismus mit einer linken Gesellschaftsdiagnose und einem historisch kundigen Blick, der sich insbesondere im Cartheserhof zeigt. Es gibt Autoren, die zu Recht niemand mehr kennt. Und es gibt Autoren, die zu Unrecht vergessen sind. Carlo Thein gehört mit seinem Werk definitiv zu letzteren.