Anna Kavan: Eis
Die Geschichte ist biblisch einfach: Ein namenloser Ich-Erzähler verfolgt eine Frau. Er besucht sie, reist dann ab, kehrt zu ihrem Haus zurück. Sie ist verschwunden, er schifft sich ein und meint, sie an Deck zu erspähen. Im Zielhafen erfährt er, dass sie die Gefangene eines sogenannten Wächters ist. Er folgt ihnen auf ihrer Flucht, flieht selbst und nähert sich ihr wieder an. Aber je zielsicherer der Protagonist durch Schneeverwehungen stapft und mit Unimogs durch Grenzkontrollen prescht, desto stärker wächst bei der Leserin das Gefühl, ohne jede Orientierung zu sein. Auf jeden Fall würde sie ganz gerne mal innehalten, um nach links, rechts und hinten zu schauen. Wer ist diese Frau? Wer dieser Typ, der ständig von ihrem silbernen Haar schwärmt und sich diesem Wächter anbiedert? Und: Wo sind wir überhaupt?
In groben Kennzahlen lässt sich das schon sagen: Wir sind im „Eis“, im Roman der englischen Schriftstellerin Anna Kavan. 1967 erschienen, kurz nach Kavans Tod, ist das Original längst ein Klassiker. J. G. Ballard zählt sie zu „eine der rätselhaftesten Autorenfiguren der Moderne“, Doris Lessing sieht in „Eis“ das „schneehelle Licht“ eines „einzigartigen Geists“ am Werk. Nach über 50 Jahren ist der Text nun erstmals auf Deutsch erschienen – und das obsessive Vorwärts, das vom Übersetzer-Duo Silvia Morawetz und Werner Schmitz mit viel Feingefühl für das sprachliche Tempo ins Deutsche übertragen wurde, verbietet vorerst jeden weiteren Blick zurück.
Namenlose Staaten rüsten zum Krieg, während alle von einer Katastrophe reden und jeder etwas anderes damit meint. Mal patrouillieren Militärs durch Trümmerstädte, mal ziehen Plünderer durch abgeriegelte Viertel. In einem noch friedfertigen Land werden orgiastische Feste gefeiert, in einem anderen wird ein Polizist mit Eisenketten zu Tode geprügelt. Innerhalb kürzester Zeit stellt sich beim Lesen der Eindruck einer merkwürdig detaillierten Irrealität ein: Man erfährt sehr viel und durchschaut sehr wenig. Und die Hauptfigur? Reist an. Schaut zu. Macht mit. Wehrt sich. Rührt sich nicht. Reist ab. Er hat nur ein Ziel vor Augen: „Für mich war entscheidend, sie unverzüglich zu finden. Die Lage war beängstigend, die Atmosphäre angespannt, es drohte der Ernstfall.“
Mit heutigen Worten würde man sagen: Eis ist die Geschichte eines Stalkers, der meint, sein Nachstellen wäre ein Akt der Sorge. Der Roman bebildert dabei ein Netzwerk von Gewalt, bei dem die kriegerische Eskalation zwischen Ländern sich im Kleinen in der sexualisierten Gewalt an Frauen ankündigt. Es portraitiert eine vertrackte Psyche, die auf den Verfall aller Werte reagiert, indem sie sich gegen ihre Umgebung abstumpft und sich zugleich aufs Äußerste von ihr reizen lässt: „Ich fühlte mich betrogen: Ich allein hätte sie mit zärtlicher Liebe brechen sollen; ich war als Einziger berechtigt, Wunden zuzufügen.“
Moral, Wahrheit und Empathie sind dieser Figur Dinosaurierwörter einer vergangenen Epoche. In den entwerteten inneren und äußeren Landschaften von Eis gibt es denn auch weder für die Leser noch für die Figuren einen moralischen high ground. Als Allegorie auch und gerade jener Gegenwart, in der er nun auf Deutsch erschienen ist, ist der Roman wie ein Gespenst, dessen Gestalt sich nicht endgültig fassen lässt. Ja, es ist ein feministischer Text, der zeigt, wie Misogynie und zivilisatorische Enthemmung Hand in Hand gehen. Für den politisch einflussreichen Wächter, der zum Spiegelbild und Intimfeind des Erzählers wird, ist die Frau nicht viel mehr als ein Gerät, um die eigene Unterdrückungskraft zu trainieren. Vor den Augen des Protagonisten demütigt und vergewaltigt er sie in einem seiner Forts, als gelte es, seine autoritäre Fitness unter Beweis zu stellen. Wenige Tage später sind die beiden verschwunden, und der Erzähler, der sich absurderweise als Ruinenforscher auf Exkursion ausgegeben hatte, nimmt ihre Fährte auf.
Ja, der Roman ist dem Genre der apokalyptischen Literatur zuzuschlagen und illustriert das Ende des Realitätssinns in Zeiten allumfassender Krisen. Wie „ein Tuch aus sterilem Weiß“ legt sich Schnee über die wechselnden Ruinen und verschluckt die Konturen einer Welt, deren Wirklichkeit nichts mehr hergibt für die Erschöpften, Wütenden und Desillusionierten. Der Erzähler belauscht Dörfler, die den Drachen am Grund eines Fjords fürchten und eine „lebhafte Debatte rund um die Opferzeremonie“ führen, um die Gefahr zu bannen. Andere, denen er begegnet, ängstigen sich vor einer „Kobaltbombe“, die die Menschheit töte, die Flora aber intakt lasse. Die Vorstellung einer entmenschten Welt wird gespeist vom Fanatismus einer Bevölkerung, die sich selbst ausgelöscht sehen möchte, während sie verbissen um ihr Überleben kämpft.
Und ja, Eis lässt sich als Dokument einer schizoiden Drogensucht ebenso lesen wie als Climate-Fiction, in der vorrückende Gletscher die Menschen allmählich niederringen. Die „unnatürliche Kälte“ nimmt beständig zu, vor dem inneren Auge sieht der Protagonist „ein präpolares Bild“ heraufziehen, „ein arktisches Gepränge“, aus dem „kalte mineralische Feuer“ leuchten. Der Weltenuntergang wird dabei ähnlich bildgewaltig orchestriert wie in den CGI-gesättigten Hollywoodfilmen viele, viele Jahre später.
Aber es bleibt ein großer Rest in diesem Werk, der sich nicht verhashtagen lässt. Das mag ein Lektüre-Bonus der späten Erstübersetzung sein: Das Buch hat uns etwas zu sagen, ohne das jemals vorgehabt zu haben. Ihm geht jedenfalls das Beflissene ab, mit dem sich Gegenwartsliteratur mitunter an eine Marktpräferenz oder ein Debattenthema anschmiegt. Eis zehrt von der Stimmung während des Kalten Krieges; biographisch liegen ihm Erfahrungen von familiärem Unglück, Heroinkonsum, Depressionen sowie dem Umherirren auf zig Kontinenten zugrunde. Hier nur die Autorinnentraumata verarbeitet zu sehen, greift aber zu kurz, weil auf diese Weise ein Text festgesurrt wird, der sich bis zuletzt gegen jede Einordnung sträubt.
Gegen Ende des Buches heißt es: „Unabwendbarkeit zog Erhabenheit nach sich.“ Daraus hat sich der Erzähler seine Männerphantasien gebastelt. Am Ausnahmezustand berauscht er sich, dem endzeitlichen Fatalismus gibt er sich ohne Wenn und Aber anheim. Seine Haltung hinterfragt er dabei nur in den schwächsten, das heißt eigentlich: in den stärksten Augenblicken. Als die Frau und er sich kurzzeitig in einer noch unzerstörten Stadt aufhalten, versucht er, Zwang durch Zärtlichkeit zu ersetzen. Er ist für einige wenige Zeilen ehrlich – und darüber verletzbar. Aber der Sinneswechsel ist vergebens – dafür wird die Frau zu sehr begehrt, dafür ist der Sturm zu nah, das Untergangslustprinzip zu stark.
Mit der Entscheidung, seiner Hauptfigur bedingungslos zu folgen, beraubt sich der Text freilich auch der Manövrierfähigkeit, deren Obsession etwas entgegenzusetzen. Eine Lösung inklusive froher Botschaft und Prinzip-Hoffnung-Moral wäre nach 180 Seiten in Sprache gebanntem Terror aber auch fehl am Platz. Vielmehr gilt: Wer wie der Protagonist eine solch infame Haltung annimmt, kann irgendwann keinen Richtungswechsel mehr vornehmen. Stattdessen erliegt er oder sie dem Sog einer halb erfahrenen, halb erfundenen Endzeit. Einen besseren Zeitpunkt zur Veröffentlichung von Eis hätte sich der Verlag Diaphanes nicht aussuchen können.