Clemens Meyer: Nacht im Bioskop

von Samuel Hamen
September 21, 2020 / 0 Kommentare

In Clemens Meyers neuer Erzählung sind die Menschen – ob sie es wollen oder nicht – kleinste Teile einer gewaltigen Bewegung. Die tote Frau treibt uns gleich auf Seite eins entgegen – gefangen in adjektivreichen Langsätzen, eingeschlossen unter dem „Eis eines großen Flusses, der durch eine alte Stadt in der südöstlichen Mitte der Welt“ fließt. Die Szene ist der Kitzel-Opener schlechthin: Ob nun Laura Palmer, Ophelia oder jede dritte Polizeiruf-Tote, sie alle werden angeschwemmt, um mit ausgestellter morbider Sexyness den Schrecken anzukündigen, der einen im Folgenden erwartet. Auch Meyers Tote muss in dem Sinne natürlich eine schöne Tote sein: „Die Strömung des Flusses nahm ihr langes blondes Haar und bewegte es bis zu ihren Hüften, und unterm brüchigen Eis des Flusses sah es so aus, als hätte sie Flügel“.

Aber eine ironische Eröffnung, die solch abgedroschene Bilder eher entlarven als affirmieren würde, ist bei Meyer nicht zu erwarten. Dafür ist der Tonfall des Textes vor allem zu Beginn zu episch und großspurig. Menschenzeitalter werden in nur einem Absatz durchwandert; dabei verausgabt sich der Erzähler stilistisch mehr oder weniger gekonnt als Chronist Osteuropas: „Die Stadt hieß Novi Sad, und die Deutschen nannten sie Neusatz. Verschiedene Stämme siedelten seit jeher an den Ufern des Stroms, und viele hundert Jahre bevor die junge Frau ihre blauen Lippen bewegte im eisigen Wasser, als wäre noch ein winziger Rest Leben in ihr, als würde sie beten unter dem Eis, das sich so dicht, von Ufer zu Ufer erstreckte, dass die Soldaten mit Kanonen und Sprengladungen Löcher hineinschossen und -sprengten, hatten die Osmanen die Stadt erobert.“ Die deplatzierte Grandezza, mit der Meyer seine kurze Erzählung eröffnet, bricht glücklicherweise nach einigen wenigen Seiten ab.

Der Horror, der Horror

Denn das hier verhandelte Thema ist schlichtweg zu ernst, um es zum Gegenstand eines historiographischen Mätzchens zu machen. Im heute serbischen Novi Sad spielen sich, davon erzählt „Nacht im Bioskop“, im Januar 1942 grauenhafte Szenen ab. Die ungarische Besatzungsmacht – Verbündeter der Achsenmächte – statuiert ein Exempel ihrer Willkürherrschaft. Soldaten überfallen Zivilisten in ihren Wohnungen und treiben sie im Bahnhofsgebäude zusammen. Sie schießen Löcher in die zugefrorene Donau, um die vor allem serbischen und jüdischen Opfer unterm Eis zu ertränken. Ein namenloser Mann, Anhänger der faschistischen Ustascha-Bewegung, streift durch die Stadt. Eine namenlose Frau, seit 1938 Dienstmädchen bei einer in der Stadt ansässigen Familie, ist ebenfalls unterwegs. Durch ihre Augen, durch die unschuldigen wie die schuldigen, werden wir der Exzesse ansichtig.

Parteilichkeit, die sich ohne jede Mühe und Diskussion einstellen könnte, ließe diese Geschichte erlahmen. Aus dem Munde des Erzählers sind weder emphatische Portraits der Opfer zu hören noch Verurteilungen der Untaten, die in diesen Nächten begangen werden. Es sind vielmehr Details, mutmaßlich deskriptive Finessen, in denen der Horror, der Horror einen anspringt: etwa die von Geldscheinen grün verfärbten, schweißnassen Hände des Dienstmädchens, das im Bahnhof Zigaretten kaufen wollte. Und dann am eigenen Leib erfährt, was es heißt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Keine Aufklärung, nirgends

Gespeist wird „Nacht im Bioskop“ von Erfahrungen, die als so irreal empfunden werden, dass sie nur beschrieben werden können, indem die Realität aufgefächert wird. Festgefügte Kategorien geraten ins Wanken; auch die Figur des namenlosen Faschisten wird zwielichtiger, unklarer in ihrem Verhalten. Hat sie sich vom Morden losgesagt? Will sie die Frau und den Säugling der getöteten Familie retten und aus der Stadt schmuggeln? Wie im Traum, wie im Albtraum ziehen die Nächte in Voice-Overs und Ineinander-Blendungen vorbei:  „Wenig später, Tage, oder Stunden nur?, würde der Mann mit dem Pelzmantel den Jungen an einem der Eislöcher stehen sehen, zusammen mit anderen Soldaten, Schatten auf dem Wasser, im Wasser, die Pfiffe der Lokomotiven, die aus aufgerissenen Mündern dringen. Die Feuerkörbe auf der Brücke brennen nun, der Mann mit dem Pelzmantel sieht weitere Soldaten, er hört eine Glocke schlagen in der Stadt, fünf Uhr am Abend erst und dunkle, dunkle Nacht.“

Der Text setzt bei alledem auf einen unbehaglichen und deswegen reizvollen Effekt des Ästhetischen. Je brutaler die Erfahrungen sind, desto obszöner muss dieses Erzählen erscheinen, das Täter- und Opferperspektiven vermengt, das die Gräuel mal ausblendet, mal überbelichtet. Einer moralisch integeren und historisch sauberen Aufklärung dieser „dunklen, dunklen Nacht“ fühlt sich „Nacht im Bioskop“ nicht verpflichtet – und das nicht aus niederem Kalkül, sondern aus der Selbsterkenntnis heraus, dass eine Literatur des dämmernd Atmosphären, wie sie hier vorliegt, einfach nicht in der Eindeutigkeit münden darf. Meyers Sätze leben vom Zwielicht, von der Schwebe und dem Effektvollen. Die Zigaretten der Soldaten glimmen, das Haar des toten Mädchens glänzt. Es gibt kein Detail, was sich nicht als Decor des Grausigen verwerten ließe.

Schrecken, die Bilder werden

Das Kino, damals auch Bioskop genannt, ist der Ort, an dem dieses Schreiben sich selbst begegnet. Im Laufe der Nacht finden sich beide Protagonisten dort ein: „Sie schließt die Augen. Sieht und spürt die Bewegungen des Lichts durch die geschlossenen Lider. Sie stolperten über Körper. In unregelmäßigen Abständen, die ihr regelmäßig vorkamen, stießen sie auf Körper, lang und dunkel und schmal im Schnee, wo war der Mond?“ Vor dem sprichwörtlichen inneren Auge erscheinen gespenstische Gegenwelten, in denen die Lebenden tot und die Toten lebendig sind. „Nacht im Bioskop“ folgt dabei dem Reiz des Morbiden und stellt sich – wie schon Christian Krachts Roman „Die Toten“ – der Frage, wie sich Schrecken in Bilder verwandeln und welche Macht diese Bilder entwickeln. In Friedenszeiten aufgenommene Postkartenansichten von Novi Sad ergänzen diese intermediale Anordnung, in der es um Realitäten und Abbilder, um Erlebnisse und deren Überlieferung geht.

Clemens Meyer wird seit vielen Jahren von Leser*innen ebenso wie von der Kritik dafür geschätzt, seine Figuren in trübe Lichter zu stellen und sie durch dämmernde Zeiten schreiten zu lassen. Mit der neuen Erzählung hat er sein Spektrum um das Geschichtliche erweitert, an seiner Schreibe, wie er sie seit Jahren praktiziert, indes nichts grundlegend geändert. Die Form ist dieselbe geblieben, obwohl sich Meyer an einem schwereren, auch heikleren Stoff versucht. Ob er mit seinem sprachlichen Standard, den er nur in den (missglückten) Anfangsszenen zu erweitern versucht, der Komplexität historischer Ereignisse wie dem Pogrom in Novi Sad gerecht wird, ist indes nicht ausgemacht. Wegen der Kürze kann „Nacht im Bioskop“ seine medientheoretischen genau wie seine polithistorischen Themen nur im Ansatz verhandeln. Das verleiht diesem Text eine fragmentarische Intensität, entzieht ihm zugleich die Möglichkeit, sich umfassender mit Fragen rund um Ethik und Ästhetik zu beschäftigen. Gut also, dass die Erzählung kein Roman geworden ist. Sie hätte wahrscheinlich mit jeder weiteren Szene, in der Stimmung abgespult und Uneindeutigkeit als ästhetischer Genuss zelebriert wird, ihr historisches Thema mehr und mehr aus den Augen verloren.