Herbert Kapfer: Utop

von Samuel Hamen
Oktober 17, 2021 / 0 Kommentare

Herbert Kapfer ist es mit seinem neuen Buch „Utop“ gelungen, wortwörtlich zum Schriftsteller zu werden, ohne selbst auch nur eine Zeile zu verfassen: zu jemandem, der Schriften nebeneinanderstellt, der längst publizierte und oftmals vergessene Texte montiert, Ideen arrangiert und so das zwanzigste Jahrhundert als ein Archiv der Fiktionen und Theorien zugänglich macht. Der Verlag preist einen „Roman mit Zeitluken in die Gegenwart“ an, Kapfer selbst spricht davon, dass er in seinen Montagen „die Sprachen von damals“ benutze, um eine eigene Erzählung daraus zu machen.

Im Literaturverzeichnis sind 120 Titel aufgeführt, aus denen der 1954 geborene Kapfer geschöpft hat, darunter Romane wie Alma M. Karlins fantastische Erzählung „Isolanthis. Roman vom Sinken eines Erdteils“ von 1930 und Erich von Mendelssohns Roman „Phantasten“ von 1912. Dazu gesellen sich unter anderem Beiträge von Bruno Latour, Herbert Marcuse, Thomas Morus und Simone Weil. Ein kühner Mix, eine wilde Auswahl – zusammengehalten wird diese Sammlung von der Denkfigur der Utopie. Jede Zeile von „Utop“ erzählt auf ihre Weise davon, wie Menschen aufbrechen, wie sie sich alternative Leben herbeiwünschen, welche Argumente und Bilderwelten sie dazu bemühen, wie sie daran scheitern, die schöne neue Welt aufzubauen, und statt ihrer Schlachtfelder der Gewalt, Technik und Konkurrenz schaffen. Das reicht von anarchistischen Siedlerträumen bis hin zu nationalistischen Kopfgeburten von Atlantis als Neudeutschland. Am Anfang steht der Traum; am Ende, das ist die Dynamik, der hier Gestalt verliehen wird, lauert indes allzu oft der Albtraum.

Dabei zieht Kapfer, der vor zwei Jahren mit „1919“ ein ganz ähnliches Buch vorgelegt hatte, quer durch Genres, Jahrzehnte und Stile, darauf bedacht, verborgene Verwandtschaften zwischen Texten zu offenbaren und Ideologien, die sich zwischen den Worten eingenistet haben, freizulegen. Angepeilt wird eine „Synergie der Zeiten“, wie es später heißt, als Kapfer die italienische Philosophin Donnatella Di Cesare zitiert, „in der sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig beleuchten und erhellen und wie blitzartig Licht auf die Zukunft werfen“. Es geht, mit anderen Worten, um den „Urkeim der menschlichen Rasse“ und um „Messiasse der Reinheit, der Wollust, des Pflanzenessens“, um das „Heldentum der Frauen“ und um den Geist als „sekundäres männliches Geschlechtsmerkmal“, um „gemäßigte Extremsozialisten“ und „klassenbewußte Proletarier“, um die „Atlantis-Forschungs-Expedition“ und die „Gefilde des Mars“, um den „Frieden im Sonnensystem“ und die „Maxime der Bombe“.

Es ist in vielerlei Hinsicht ein herausragendes Buch: Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, die Fülle an Publikationen zu sichten, teils überhaupt erst ausfindig zu machen, und sie dann so zusammenzusetzen, dass eine neue Kohärenz aus altem Material entsteht. Der Autor stellt sich damit der Komplexität historischer Erfahrung und überführt diese in einen Roman aus Romanen, in einen Essay aus Essays, der einen Effekt der Vergegenwärtigung hervorruft: So dachten, so imaginierten, so schrieben die Menschen damals. Das ist mal amüsant, mal piefig deutschtümelnd: „Ich habe mich mit Bücherlesen nie viel abgegeben, Herr Urbschad. Meine deutsche Eigenschaft ist Tapferkeit.“ In allen Fällen strotzt „Utop“ vor Erkenntnissen und kleinen philosophischen Einlagen: „Wichtig ist vor allem,“ schreibt Carl Einstein in den 1930er Jahren, „das, was man Realität nennt, mit Hilfe nicht angepaßter Halluzinationen zu erschüttern, um so die Werthierarchien des Wirklichen zu verändern.“

Zugleich gelingt es Hebert Kapfer mit dem dritten Teil von „Utop“, „Geister“ übertitelt, sein geschichtsversessenes Projekt ins Hier und Jetzt zu holen. Elfriede Jelineks Theaterstück „Die Schutzbefohlenen“ steht hier neben Pia Klemps Roman „Lass uns mit den Toten tanzen“ von 2019 und Donatella Di Cesares „Von der politischen Berufung der Philosophie“ aus dem letzten Jahr. Die eigene Zeit wird hier historisch, zur Betrachtung freigegeben für den erstaunten Leser. Denn er merkt, wie zittrig, wie aggressiv, energetisch und verzweifelt auch wir heute über die kommende Zeit nachdenken. Herbert Kapfer hat mit „Utop“ im allerbesten Sinne Gegenwartsliteratur vorgelegt: Literatur, die ihre Gegenwärtigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie nach hinten und nach vorne offen ist, dass sie durchlässig ist für die Menschenträume, für die, die einst geträumt wurden, und für die, die gegen alle Widrigkeiten nach wie vor geträumt werden.

zuerst vorgestellt in der Sendung „Lesart“ bei Deutschlandfunk Kultur