Alban Nikolai Herbst: In New York
„Ich möchte erzählerisch gern mitten im Hurricane sein“, schrieb Alban Nikolai Herbst 2009 auf seinem Blog „Die Dschungel“. Und weiter: „Mir geht es nicht um Heilung, auch nicht um Abfindung, sondern darum, die Phänomene, während sie sind, zu spüren und das zu formulieren.“ Der Kommentar steht unter einem Kapitel von Herbsts „In New York“, jenem Roman, der 1999 ein erstes Mal in Buchform erschien, 2009 als Serie online gestellt wurde und nun vom Wuppertaler „Arco“-Verlag in der überarbeiteten Urfassung erneut aufgelegt wird. Mittendrin zu sein, das heißt in Bezug auf die Metropole schlechthin vor allem ohne einen Überblick zu sein:
„Endlos verschachtelte Kastenburgen, Verwischung der Plakate mit Architektur, was ist noch Fleisch? was bloßer Schein? Limousinen schwammen hochzeitsweiß mit, andere mafiagedeckt, manche topless. Deren Autochassis glänzten poliert. Kleine Südinder, in Konfirmationsanzüge gesteckt, saßen hinterm elfenbeinfarb’nen Volant. – Die Schwarzen trommelten immer erregter. Vermischung indes war nirgends zu sehen, die Kulturen blieben komplett unter sich, und wo sie wohnten, sowieso. Harlem China Town Spanish Harlem Little Italy Little Odessa an Brighton Bridge in Brooklyn. Und was sich in Queens finden sollte. Doch stand ich nur weiter am Times Square.“
Diese Erfahrung einer zwar intensiven, aber zu keinem Zeitpunkt kontrollierbaren Teilhabe an diesem „drohendlockenden Manhattan“ ist gleich doppelt konsequent: Wer durch New York wandelt, muss sich im Gewirr aus Codes und Straßen, Stimmen und Zeiten verlaufen. Wenn dann auch noch Alban Nikolai Herbst, dessen Texte die literarische Postmoderne im deutschsprachigen Raum wie wenige andere inkorporieren, über New York schreibt, dann muss sich nicht nur die Figur verlaufen, sondern sich gleich die gesamte Clique – Figur, Erzähler und Autor – in den urbanen Palimpsesten verirren.
Von Männern auf der Suche
Die Handlung ist ähnlich verwinkelt wie die New Yorker Subway: Wilfred Talisker, ein schwäbischer Jurist, hat eine Erweckungserfahrung und bricht Hals über Kopf nach New York auf. Jemand hat ihn zu sich bestellt. Aber wer ist der Auftraggeber? Oder genauer gefragt: der Strippenzieher? Denn Talisker ist nichts als eine Kopfgeburt des Erzählers Gottfried Meissen, der vor Ort seiner Pappfigur auflauert und sie doch nicht zu fassen bekommt. In diesem mehrfach codierten Buch agieren Männer, die benannt sind nach einer bekannten Whisky-Marke (Talisker) respektive einer urdeutschen Porzellanmanufaktur (Meissen), Männer, die das Abenteuer suchen, sich selbst entwerfen, überschreiben und verwischen: „Kannte er sich nun doch aus und wußte, wohin? Seltsam. Oder hatte er das Hotel vorgebucht? Das hatte ich nicht mitbekommen. Er mußte es in der Nacht zuvor getan haben, als ihn meine Imaginationen alleingelassen hatten, weil ich auf meiner Fahrt vielleicht doch etwas gedöst hatte.“
Ein Detektiv ist ohne Grammatik, ein Flaneur ohne Plan und dieser Autor in seinem ureigensten Element. Dementsprechend kunstvoll gleitet, schrammt und keilt sich der Roman durch einen „Schauplatz phantastischer Intrigen“, durch die Räume dieser Stadt, ihre Sprachen, Typen und Atmosphären. In Striplokalen wird mit Tänzerinnen geflirtet, die so aussehen wie auf Fotos von vor vierzig Jahren. Alles ist Ereignis und Paranoia, Schwelle, Schachzug und Symbol.
„In den letzten beiden Jahrzehnten ging der Einzelcharakter westlicher Städte verloren. Nicht weil sie sich ausgelebt hätten, sondern weil ihn das Geld nicht verträgt. Wer kalkuliert, will Norm. Nur daß Geschichten dort alleine gedeihen, wo es die Leidenschaften gibt: Haß Liebe Tod. Wo nach Lust gehandelt wird, nicht nach Gewinnen.“
Die Disneyfication der Stadt
Während des Lesens lässt sich eine weitere Schicht freilegen: „In New York“ ist zwar kein soziologischer, geschweige denn sozialrealistischer, aber sehr wohl ein sozialer Roman. Es geht um die „Disneyfication“ New Yorks, um die Politik Rudolph Giulianis, der als Bürgermeister Obdachlose über die Staatsgrenze fahren ließ und den öffentlichen Raum privatisierte und kommerzialisierte. Es geht um Polizeigewalt gegen Schwarze und Methoden der Verdrängung, um die Unerwünschten aus dem sogenannten Stadtbild zu entfernen. Im Rahmen ihres Catch-me-if-you-can-Gebummels stoßen Talisker und Meissen denn auch auf eine Art Happening-Verschwörung. Ein Dirigent möchte in einer Höhle unterhalb eines Parks ein Konzert aufführen – Obdachlose als Musiker, der Untergrund als Ausflucht, die Kunst als Rückzugsort einer für das Kapital durchgetakteten Stadt an der Oberfläche.
Eine großstädtische Syntax
Das alles – und noch mehr – drängt Herbst auf 160 Seiten zusammen, begleitet von Fotografien und Illustrationen, die der Autor während eines New-York-Aufenthalts sammelte. Das ist mal überladen in seiner Kompaktheit, mal barock in seiner großstädtischen Syntax, mal sprühend in seinem Anspielungsreichtum, auf jeden Fall aber: nichts wirklich Überraschendes oder Atemberaubendes. Anders formuliert: Herbsts „In New York“ macht – ohne dass ihm das zur Last zu legen wäre – eins erfahrbar: wie viel Zeit vergangen ist. Tatsächlich liest sich Flaneur- oder Städte-Prosa heute anders, weniger vertrackt, weniger spielerisch und ja, auch weniger männlich. Das hat Teju Cole mit seinem Roman „Open City“ 2011 ebenso bewiesen wie der Sammelband „Flexen. Flâneusen schreiben Städte“, der 2019 im Verbrecher Verlag erschienen ist.
Herbsts Roman zieht seinen Wert daraus, ein historisches ästhetisches Dokument zu sein, ein New-York-Klassiker, wie der Verlag es ausdrückt. So liefen sie damals also durch die Städte, so schrieben sie sich in sie hinein. Und eine Frage, die die Neuauflage dieses wertvollen Romans aufwirft, bleibt offen: Inwiefern ist es ein Verlust, dass Gestaltungsprinzipien der Postmoderne, wie sie hier – mitunter exzessiv – angewandt werden, heute so altmodisch, so abgenutzt und abgekämpft wirken? Ist so etwas wie Realismuskritik oder Erkenntnisskepsis nicht mehr zu gebrauchen? War es nötig, den Leerlauf dieser Literatur zu unterbrechen? Die Bücher, die neuen wie die alten, sind jetzt jedenfalls zu haben, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, um ein wenig in New York und anderswo zu flexen.
zuerst erschienen im: Büchermarkt / Deutschlandfunk