Jamaica Kincaid: Eine kleine Insel

von Samuel Hamen
Dezember 8, 2021 / 0 Kommentare

Es klingt erst einmal so, als hätte Jamaica Kincaid einen dieser niedrigschwelligen Reiseführer verfasst, in denen Touristen als Allesfresser adressiert werden, die tollpatschig durch die Welt stolpern: „Wenn Sie als Tourist nach Antigua kommen“, so beginnt ihr Essay „Nur eine kleine Insel“, dann, ja dann was? Dann achten Sie darauf, sich bereits vor dem Frühstück mit Sonnencrème einzureiben? Dann vergessen Sie nicht, zu den Sandalen die passenden Tennissocken anzuziehen?

Schnell stellt sich dann heraus, dass Kincaids Buch eigentlich ein Anti-Reiseführer ist, ein Pamphlet gegen westlichen Tourismus und die mit ihm einhergehende Degradierung von ganzen Ländern zu sogenannten „Traumzielen“, zu paradiesisch aufgepimpten Service-Räumen, die ausschließlich dazu dienen sollen, die Seele in Ruhe „baumeln“ zu lassen, als wäre sie eine zu oft angehauene Piňata. Auch der kleine Karibikstaat Antigua und Barbuda ist eine beliebte Destination. Sein Tourismusminister prahlte kürzlich, 2021 als eines der ersten Länder wieder mehr Gäste als zu Vor-Corona-Zeiten beherbergt zu haben. „Zu etwas Hässlichem werden Sie“, schreibt nun aber Kincaid und meint genau diese Gäste, „wenn Sie Tourist werden, zu hässlichem, leerem, dummem Zeug, zu einem Stück Abfall, das mal hier und mal da innehält, um hier etwas anzuglotzen und dort etwas zu kosten.“

Dieser Hieb sitzt. Und auf ihn folgen weitere, immer wieder gegen die Touristin, als die die Leserin – ob sie sich als solche betrachtet oder nicht – angesprochen wird: „Und deshalb dürfen Sie ja nicht das leicht komische Gefühl, das Sie von Zeit zu Zeit beim Gedanken an Ausbeutung, Unterdrückung und Beherrschung befällt, komplett in Unbehagen und Verdruss ausarten lassen, denn damit könnten Sie sich den Urlaub versauen.“ Kincaid visiert in ihrer Inselbegehung auch die korrupte Politikerkaste an, die sich schamlos bereichert und sich Posten und lukrative Deals zuspielt, zudem immer wieder die koloniale Vergangenheit Antiguas, die Engländer und all „das Üble, das sie mitbrachten“ und das nach wie vor die soziale und wirtschaftliche Struktur der Insel prägt.

Wiederauflage nach mehr als dreißig Jahren

Jamaica Kincaid wurde 1949 auf Antigua geboren und verließ die Insel als 17-Jährige, um in New York als Au-pair zu arbeiten. Während sie sich allmählich einen Namen als Schriftstellerin machte, beobachtete sie die Entwicklung Antiguas aus der US-Ferne: wie ein starkes Erdbeben die Insel 1974 verwüstete, wie die Region 1981 aus dem Commonwealth ausschied und der Staat Antigua und Barbuda entstand, wie ein Filz aus kolonialen Überbleibseln, politischer Willkür und insularem Provinzialismus das Land lähmte. „Diese Menschen“, befindet Kincaid und meint damit alle Antiguaner, „können sich selbst nicht in einem größeren Zusammenhang sehen, sie können nicht erkennen, dass sie ein Glied irgendeiner Kette sind.“

Es dauert ein wenig, bis „Nur eine kleine Insel“ sein Alter preisgibt. Das englische Original erschien 1988, zwei Jahre später eine deutsche Übersetzung, die vergriffen ist. Das ist die ernüchternde Pointe der Wiederauflage nach mehr als dreißig Jahren: Wenig hat sich geändert. Westlicher Tourismus ist nach wie vor eine desaströse Angelegenheit, die Folgen von ehemaliger Kolonialherrschaft auf die Wirtschaft, Politik und das Selbstverständnis zehren noch immer an den Ländern und ihren Bevölkerungen. Dass der Zürcher Kampa Verlag dieses und zahlreiche weitere Bücher Kincaids neu herausbringt, dürfte auch und besonders an der unbeugsamen Energie liegen, mit der die Schriftstellerin, die heute African und Afroamerican Studies in Harvard lehrt, über die Nachwehen historischer Gewalt schreibt.

Eine Wut, die kein Ende kennt

Die unerbittliche Anklage in „Nur eine kleine Insel“, die den Leser exklusiv als Touristen und den Touristen exklusiv als Repräsentanten westlichen Unrechts adressiert, lässt das Buch notgedrungen als Analyse starr werden. Es gibt „Leute wie Sie“ und „Leute wie ich“, die Touristen und die Einheimischen, die Weißen und die Schwarzen, die Politiker und die Bevölkerung. Anders ausgedrückt: Es gibt die Täter und die Opfer. Dieser Statik, die soziologisch auf eher schwachen Beinen steht und statt individuellen Lebensweisen nur kollektive Zugehörigkeiten anerkennt, ist sich Kincaid durchaus bewusst. Sie spricht von ihrer „üblichen Litanei“, davon, dass nichts ihre „Wut auslöschen“ könne, „keine Entschuldigung, keine große Geldsumme, nicht der Tod des Verbrechers“. Das Falsche könne niemals das Richtige werden, „und nur das Unmögliche kann mich zur Ruhe bringen: Kann man einen Weg finden, um das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen? Schauen Sie also zu bei meiner ausgedehnten Visite des Gallenganges, sehen Sie mit an, wie bitter, wie schwermütig es mich macht, einfach dazusitzen und über diese Dinge nachzudenken.“

Es wäre aber zu einfach, das Buch als selbstgerechte Philippika abzutun, auch wenn es sich diesen Sound über weite Strecken zu eigen macht. „Nur eine kleine Insel“ birgt – und das macht seine Wucht aus – eine tragische Wut in sich, weil der Essay trotz aller rhetorischen Bemühungen daran scheitert, sich dessen zu entledigen, was ihn überhaupt erst so unbarmherzig gemacht hat: einer gallig gewordenen Zuneigung zu den Menschen, der Landschaft und der Geschichte dieser Insel.

Was einem genommen wurde

Kincaid könnte man sich gut vorstellen, wie sie über Antigua geistert, um diese so lasziv und lässig gewölbten Palmen zu fällen, das „Traumschiff“ mit Florian Silbereisen und Harald Schmidt (Episode 85) zu versenken und die unerträgliche Feinheit des Sands zu verunreinigen, nicht weil sie diesen Landstrich hasst, ganz im Gegenteil. Sie liebt ihn, weiß diese Liebe aber nur mehr in Groll gegenüber den Kataloglügen und dem politischen Opportunismus zu überführen, um so zu verhindern, den noch schlimmeren Weg einzuschlagen, nämlich zu resignieren in Anbetracht der Lage. „Ich hingegen sehe die Millionen Menschen“, heißt es, „von denen ich lediglich einer bin, die zu Waisen gemacht wurden: kein Mutterland, kein Vaterland, keine Götter, keine Erdhügel als Heiligtümer […] und, was am Schlimmsten und Schmerzhaftesten ist, keine Sprache.“

So ensteht also dieser rant, diese rhythmisierte Suada, die niemanden, schon gar nicht sich selbst schont – als Erprobung der eigenen Sprache, als Fluch auf die Gewalttäter der Geschichte und die Profiteure der Gegenwart, als Gram über die Tatsache, immerzu als die Verletzte und Wutschnaubende aufzutreten, festgetackert im „Debakel, in dem ich mich jetzt befinde“, dem „Chaos, als das ich mein Leben ansehe“. Ganz, ganz am Ende hat sich Kincaid dann durchgearbeitet, durchgeschimpft und durchgeklagt, um sich einem Augenblick der erschöpften Zuneigung hinzugeben, der die Grenzen dann doch überwindet. Plötzlich ist nicht mehr von Einheimischen und Touristen die Rede, nicht mehr von denen, die herrschen, und denen, die beherrscht werden, sondern von einem „Menschen, samt allem, was einen Menschen ausmacht“.

Diese Zärtlichkeit, die einen anderswo wie ein Küchenkalenderspruch anspringen würde, nimmt man Jamaica Kincaid sofort ab, weil man ihr davor auf gut hundert Seiten auf ihrem „Gallengang“ gefolgt ist, einem Weg, der aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft führt, dreißig Jahre hin oder her.