Philipp Winkler: Creep
„Wo inzwischen das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat“, heißt es in der Einleitung zum neuen „text + kritik“-Band zu digitaler Literatur, da „erscheint die Aufrechterhaltung der Binäropposition ‚analog – digital‘ immer fragwürdiger.“ Längst sei man“, schreiben die Herausgeber Hannes Bajohr und Annette Gilbert in ihrer Einleitung, „im Postdigitalen angekommen, in einem Zustand ohne klare Grenze zwischen On- und Offline-Status. „Creep“ spielt mitten in dieser postdigitalen Welt: In Japan sitzt Junya, ein Mann, der sein Zimmer seit gut zwanzig Jahren nicht mehr verlassen hat und sich nur noch Filmen, Serien und Internet-Foren widmet. In Deutschland sitzt Fanni, eine junge Frau, die bei „BELL“ arbeitet, einem Tech-Unternehmen, das Sicherheitskameras vertreibt.
Beiden ist das Internet zum Zufluchtsort geworden, zum Kompensationsraum und zur Erweiterungsfläche. Sie wollen ihre Körperlichkeit hinter sich lassen und sich in Strom und Datasets verwandeln, als Geister in den Weiten des Netzes verschwinden: „Noch immer reagiert ihr Körper in dem Moment, in dem die ersten Spritzer auf ihre Epidermis hageln, mit Fluchtdrang. Sie zwingt ihn mit Gewalt dazu, nicht aus der Duschkabine zu springen. Ist eine gewisse Schwelle überschritten, setzt körperweite Taubheit ein, und es wird erträglich. Dann kommt es ihr beinahe so vor, als löse sich ihr Meat Prison vom Hals abwärts auf und sie wäre nichts weiter als ein levitierendes Hirn.“
Kaum Sprachgefühl
Robotergleich staksen Winklers beide Hauptfiguren umher, ausgestattet mit den Top 2 familiärer Traumata (einmal die ehrgeizige Mutter, einmal die desinteressierten Eltern), aufgezogen an einer einzigen psychologischen Drehschraube. Angetrieben werden sie von einer Bildsprache, in der es neben frei schwebenden Hirnen noch „autonome Haarsträhnen“ sowie Fannis Gefühl gibt, „als hätte ihre Großhirnrinde einen eigenen Hinterkopf und als jucke etwas an diesem imaginären Hinterkopf, versuche, sich Gehör zu verschaffen“.
Weil sie sich so kaputt fühlt, loggt sich Fanni jedenfalls über die Kameras von „BELL“ in das unkaputte Leben einer typisch deutschen Familie ein. Lebensnöte werden nicht nur an dieser Stelle in triviale Erzählmodelle transferiert und dann als raffinierte Psychogramme präsentiert. (Insgesamt tummeln sich in Winklers Roman stereotype Figuren, die katalogfertig ihre Rollen übernehmen; vom Nerd über die Rabenmutter, vom Mafioso über den Prepper ist alles dabei.) Detailliert ist Fannis Portrait nur, wenn mal wieder gourmetmäßig Soldaten-Sofortnahrung beschrieben wird, die sie ständig essen muss, während sie „BELL“-Kundendaten als Hehlerware im Dark Web an einen User namens GermanVermin verkauft.
Und weil er so überfordert ist, greift Junya in Japan zum Hammer, steigt nachts in Häuser ein und überfällt die Schlafenden. Das ist seine Rache an einer Gesellschaft, die ihn – so die mechanistische Vorgabe des Romans – in die Depression getrieben hat. Die Videos seiner Exzesse lädt er hoch, in der Hoffnung auf Internet-Fame und Feedback von seinem Idol GermanVermin.
Interessante Gegenwartstypen
„Ein Schatten blickt ihm gesichtslos entgegen. Neigt Junya den Kopf, tut der Schatten dasselbe. Als es Nacht wird, löst sich der Schatten auf. Nur der vage Rahmen des Monitors ist in der Dunkelheit noch auszumachen. Wie ein Fenster zwischen zwei Tunneln. Irgendwo dort drinnen hat sich etwas zurückgezogen und sich im Dunkeln verkrochen“. Eigentlich sind sie ja interessante Gegenwartstypen: hier der Hikikomori, wie der japanische Begriff für eine zumeist männliche Person lautet, die sich sozial zurückzieht; dort die IT-Spezialistin, die ihr privates Desaster in eine zynische Tech-Branche hineinträgt.
Aber beide werden sie zu Bauernopfern eines diffusen Romans, an dessen Anfang, Mitte und Ende eine Prämisse steht, die die Medientheorie seit Jahrzehnten mit sich herumträgt: dass das Internet unsere Realitätskompetenz eintrübt. „Sie hat schon einige Schlägereien auf offener Straße mitbekommen“, heißt es bei Winkler, „Parking Lot Brawls, Wedding Clashes, Road Rage Compilations, Hood Fights, Schoolyard Skirmishes. Genauso wie Clips von Messerstechereien. Eine Million schlimmerer Dinge. Aber das ist das erste Knifing, das sie je IRL gesehen hat. Und irgendwie fühlt es sich zutiefst falsch an. Sie kann ihren Finger nicht genau drauflegen. Da ist nur dieses Gefühl, dass das nicht hierher, ins echte Leben, gehört.“
Fannis Wahrnehmung verschaltet nicht nur an dieser Stelle zwei Register. Ein zertrümmertes Gesicht IRL, „in real life“, ist für sie nicht zu haben ohne das Bild eines zertrümmerten Gesichts auf ihrem Bildschirm. In einer Art digitaler Dissoziation gelingt es ihr immer seltener, beide Erfahrungsmodi im Einklang zu halten: „In der nächsten Sekunde werden die digitale und die gegenständliche Welt aufeinanderprallen. Auf diesen Moment hat sie gewartet. Hingefiebert vielleicht sogar. Shock Video ohne Video. Dafür aber mehr als nur in 2D. Mehr als in 3D.“
Zugleich kommt ihr die Utopie abhanden, sich in den Nischen des Internets heimisch zu fühlen, in einem „dunkeltürkisen Vakuum, weit weg von den elektrisch knisternden Knotenpunkten und Datenhighways“. Auch Junyas digitale Welt ist entzaubert, ersetzt worden durch ein Perpetuum Mobile der Gewalt. Erst wenn er den Clip seiner Hammer-Attacken hochgeladen hat, sind diese wirklich passiert. Das Forum im Dark Web ist für ihn, den Abgestumpften, der vitale Raum, in dem Gewalt entsteht, konsumiert, verarbeitet und immer wieder getriggert wird.
Mal wieder: Milieu-Realismus
Als wäre ihm während des Schreibens aufgegangen, wie wenig sich mit Fanni und Junya anstellen lässt, inszeniert Winkler dann in der zweiten Hälfte einen bizarren Plot-Exzess inkl. Yakuza-Clique, Spyware und Spycams sowie Brüder ehemaliger Freundinnen, die sich superverzweifelt in Badezimmer einsperren und superredselige Briefe schreiben: „Alles, was ich je angepackt hab, was ich je versucht hab, hat sich im Nullkommanichts in Scheiße verwandelt. Bin nicht mal bis zum Abi gekommen.“
Letztlich pfropft Winkler seinem Sujet, seinen Figuren denselben Milieu-Realismus auf, den er bereits in „Hool“ und „Carnival“ an den Tag legte. Aber das Dark Web ist mehr als die neueste gesellschaftliche Randzone voller charmant abgehalfterter Gestalten. Als schwärzester Punkt des Internets fordert es auch die Literatur heraus: Wie kann ich überhaupt einen Raum zeigen, der programmiert wurde, um nicht einsehbar zu sein? Was sind meine Figuren mit ihren bürgerlichen Namen und Alltags- und Allerwelt-Erfahrungen noch wert, wenn sich jegliche Identität oder Authentizität zwischen Avataren und Pseudonymen auflöst? Kann ich überhaupt noch mit irgendeinem Anspruch auf Vollständigkeit von diesen Menschen, diesen Usern erzählen?
Die so aktuellen, so spannenden Fragen, wie Wahrnehmung, Wissen und Wirklichkeit in einer postdigitalen Gesellschaft zusammenhängen, bekommt der Roman aber nicht in den Griff. Dafür ist seine Sprache zu plakativ, seine Handlung zu sehr auf die dürftig ausgestalteten Seelenleben der Figuren fokussiert. Auch die Analyse, wie die Tiefen menschlicher Existenz und die Tiefen des Netzes verschaltet sind, auch diese Analyse, von der man hofft, sie irgendwann doch noch zu erhaschen, versickert in inflationär gebrauchtem Technikjargon. Allgemeinplätze, die vor zwanzig Jahren aus dem Munde von Neo oder Orpheus aus Matrix sexy klangen („Level-Design der Realität“, „Ventile der Realität“, „gescripteter Abklatsch der Realität“) runden die Sache ab.
Zwar stellt Winkler ganz am Ende die Selbstwidersprüche der Figuren heraus, sodass beide ihre Lebensweisen überprüfen müssen. Da merkt man zum ersten und einzigen Mal, keinen Roman von 2006, sondern tatsächlich einen Text von 2022, der „Creep“ unbedingt sein möchte, in Händen zu halten. Diese Pointen, in denen ein durchkapitalisiertes und durchbrutalisiertes Netz kritisch gerahmt wird, täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass sich „Creep“ an einem Gegenstand abarbeitet, ohne diesen je auf intellektuell oder ästhetisch anregende Weise zu fassen zu kriegen.